(Dies ist das 1500ste Posting)
Das ist schon irgendwie unheimlich, wie sagenhaft schnell vorher unbekannte Ortsnamen oder Personennamen weltweit bekannt werden können.
Fukushima, Breivik, Utøya, McVeigh, Columbine, Wako.. sind solche Gruselbegriffe, die jeder kennt und extrem negativ konnotiert.
Und nun „Breiviks Manifest“!
Den Megaanschlag vom Freitag sieht er als eine Art „Marketingaktion“ und es hat geklappt.
Es war sogar ein Marketing-Coup.
Nun stürzen sich die Journalisten weltweit auf die 1500 Seiten Hass und tun ihm den Gefallen „Breiviks Kampf“ in jede Ecke der Erde zu tragen.
„Es ist kaum auszuhalten: Anders Behring Breivik ist seinem Ziel so nahe gekommen! Alle Welt schreibt jetzt über ihn, leuchtet sein Leben, seine Motive aus, und viele, viele klicken sich dieser Tage durch sein krankes, aber professionell layoutetes, in diesem Sinne also gut lesbares Manifest des Rassenhasses. Breivik ist wichtig geworden. Auch seine Selbstporträts als Kreuzritter von eigenen Gnaden haben sich ihren Platz in unserem Gedächtnis bereits erobert. Wie sollte man das auch vermeiden?"(
Ines Kappert, taz, 25.07.11)
Hat Breivik also das erreicht, was er wollte?
Tun wir ihm alle den Gefallen als seine Lautsprecher zu fungieren?
Ich meine, nein. Auch wenn zunächst alles danach aussieht.
Die Alternative NICHT über die Beweggründe so eines Scheusals zu berichten gibt es in einer pluralistischen Welt de facto nicht.
Die sogenannte „Aufarbeitung“ der Gedankenwelt des Massenmörders, läuft allerdings besser, als es zu befürchten war.
Da ist zuallererst die Tatsache, daß all die „
Errorexperten“, die nur Minuten nach den ersten Meldungen aus Oslo schon Islamisten und muslimischen Terror als Sündenböcke ausgemacht hatten, einen ordentlich Schlag ins Kontor bekommen haben.
„Medien, TV-Sender wie Nachrichten-Websites, vertrauten gänzlich der eigenen - in diesem Fall aber trügerischen - Urteilsfähigkeit. Sie erklärten kurzerhand Islamisten zu den Tätern. Manche gingen unmittelbar zur Schuldzuweisung über. Die "Fuldaer Zeitung" beispielsweise kritisierte prompt die liberale Ausländerpolitik Norwegens: "Diesem feigen Terrorpack mit Großzügigkeit zu begegnen, hieße, ein Feuer mit Benzin löschen zu wollen." Nicht nur deutsche, auch andere westliche Medien vergalloppierten sich in dies Richtung. Die "Washington Post" schrieb auf ihrer Web-Seite: "Wir wissen nicht, ob al-Qaida unmittelbar verantwortlich war für die heutigen Ereignisse, aber in aller Wahrscheinlichkeit wurde der Angriff von einem Teil der dschihadistischen Hydra begangen."(
Spon 25.07.11)
Der Antiislamismus ist also (bevor der Name Breivik überhaupt bekannt wurde) schon einmal offenbar geworden.
Unsere westliche Hysterie wurde entlarvt.
Denn unter Islamistischen Anschlägen leiden viel mehr Menschen in überwiegend muslimischen Ländern, als „im Westen.“
Hasnain Kazim hält uns bei SPON den Spiegel vor; „Vorurteile machen blind“ erklärt er.
„Wenn wir den Kampf gegen den Terror gewinnen wollen, brauchen wir einen klaren Blick für die Gefahren. Vorschnelle Festlegungen, einseitige Verdächtigungen, verstellen aber die Sicht. Das ist die zweite Falle, in die wir nicht geraten dürfen. Eine Zahl von Europol sollte als Warnung dienen: Die EU hatte im vergangenen Jahr 249 Terroranschläge zu beklagen. Nur drei hatten einen islamistischen Hintergrund.“(
Spon 25.07.11)
Die zweite Frage ist, wie der Terroranschlag Norwegen und die westliche Welt verändert.
Die USA dienen hier als Negativbeispiel.
Am 12. September 2001 gehörte Amerika alle Solidarität der Welt. Sogar George W. Bush wurde mit Sympathie überschüttet. Man dachte, er mache erst einmal alles richtig.
Er besuchte sogar eine Moschee, um deutlich zu sagen, daß nicht „die Moslems“ für 9/11 verantwortlich waren.
Aber wie schnell kippte Amerika!
In beispiellosem Aktionismus trat die Regierung ihre demokratischen Spielregeln in die Tonne.
Setzte offiziell auf Folter, Urteile ohne Gerichtsprozesse und Rache.
Mit dem PATRIOT-Act wurden die Bürgerrechte ausgehebelt, der Militärhaushalt wurde gigantisch aufgeblasen.
Recht schnell ging die kriegerische Brutalität los gegen völlig unschuldige Afghanische Zivilisten und schließlich sogar ein ganzes Land, nämlich dem Irak, der keinerlei Verbindung zu Al Qaida hatte.
Fast die gesamte US-Presse gab gleich vorsorglich ihr Rückgrat ab und übernahm völlig unkritisch die größten Lügen und Absurditäten der kriminellen US-Regierung.
Es dauerte einige Jahre, bis die große und berühmte NYT zerknirscht ein
Mea Culpa für ihr Versagen beim Irakkrieg abdruckte.
Da war das Kind aber schon im Brunnen.
Amerika hatte es geschafft sich vom Opfer, mit dem alle mitfühlten, zum unbeliebtesten Staat der Erde zu mausern.
Es sieht bisher so aus, als ob Norwegen nicht diese wahnsinnigen Fehler wiederholen wird.
Natürlich kann man das jetzt noch nicht beurteilen, aber die Stimmen „auf der Straße“ in Oslo sind wohltuend anders als vor zehn Jahren in Amerika.
Es herrscht Trauer, aber kein Geschrei nach Rache, keine Forderungen nach Veränderungen der Politik Norwegens.
Statt amerikanisch-martialischer Töne, geht ein Volk "
mit Rosen gegen den Terror" vor.
Der Kronprinz sagte ziemlich richtig das, was auch schon der Ministerpräsident und viele andere Offizielle sinngemäß ausgedrückt hatten.
Kronprinz Haakon legte die sonst übliche royale Zurückhaltung komplett ab: "Nach dem 22. Juli gibt es keine Ausrede mehr für den Kampf um eine freie und offene Gesellschaft." Aber als Antwort auf Gewalt kam vom Prinzen gleich zweimal der Satz, der sonst bei offiziellen royalen Reden selten zu hören sein dürfte: "Heute sind unsere Straßen mit Liebe gefüllt."[..]
Der Prinz gab seinen Zuhörern mit auf den Weg, dass man die schrecklichen Morde nicht ungeschehen machen könne - "aber wir können wählen, was sie mit uns machen".
(SZ 25.07.2011)
Die Königsfamilie und die norwegische Regierung machen bisher einen guten Job.
Nicht so schlecht ist auch die deutsche Mainstreampresse.
Dem mea culpa über die zunächst beschuldigten Islamisten folgt nun eine breite Analyse von Schuld und Verantwortung. Der Tenor ist recht einheitlich der, daß man sich nicht darauf ausruhen dürfe Breivik für einen „einzelnen Irren“, einen Psychopathen zu halten.
Mit Breivik ist der SCHULDIGE zwar gefasst, aber das deckt noch lange nicht den viel größeren Kreis der Verantwortlichen ab.
Dafür ist sein perverses Manifest des Menschenhasses in der Tat eine gute Fundgrube.
Einige Linke klingen darüber schon wieder verzweifelt und pessimistisch:
Diese „neue Rechte“ hasst nicht nur Muslime, sie hasst auch Linke und Liberale, die in ihrem Jargon „Gutmenschen“ sind – ein Begriff, der auch von ihren Vorbildern Broder und Sarrazin gerne benutzt wird. Das 1.500 Seiten starke „Manifest“, mit dem der Terrorist Anders Behring Breivik seine Verbrechen erklären wollte, liest sich wie ein Potpourri aus Artikeln und Kommentaren rechtspopulistischer Blogs wie „Politically Incorrect“. Die Namen Geert Wilders, Theo van Gogh und Henryk M. Broder tauchen an jeweils mehr als einem Dutzend Stellen im Text auf. Unter der Überschrift „Die Vergewaltigung Europas“ bekommt Broder sogar ein ganzes Kapitel, in dem Breivik seiner Argumentation, dass die Westeuropäer sich lieber dem Islam unterwerfen würden, als gegen ihn zu kämpfen, als Mosaikstein in sein Hassgebilde einpasst. (
Jens Berger, Nachdenkseiten, 25.07.11)
Anders als Berger will ich aber ob dieser Ungeheuerlichkeiten nicht die Flinte ins Korn werfen.
Ja, sicher, wenn man unsere Chef-Populisten
Merkel und Westerwelle heute im Gala-Dress bei den schon von Hitler so über alle Maßen geliebten Wagner-Festspielen aufmarschieren sieht, wird klar, daß man von diesen Schießbudenfiguren keine ernsthaften Anstrengungen gegen Rechtsradikalismus erwarten kann.
Die VERöffentlichte Meinung ist aber schon drei Schritte weiter.
Dass wir so entsetzt reagieren, hat ja nicht allein mit den vielen Toten zu tun. Sondern auch damit, dass jeder sehen kann, wie anschlussfähig Breiviks Wahnvorstellungen an eine salonfähig gewordene Islamophobie sind. Damit wären wir beim Kern: Breiviks Hetze gegen die Muslime, die angeblich die christliche Kultur zersetzten, ist der Brückenkopf, der seine abseitige Ideologie mit der Mitte der europäischen Gesellschaft verbindet. Und genau für diese Verbindung trägt die europäische Öffentlichkeit Verantwortung. Man muss unterscheiden zwischen dem Terroristen als Person und seinem propagierten Gedankengut. In Versatzstücken findet man es in den gängigen Abgesängen auf die Multikultigesellschaft ebenso wie in der Annahme, der reproduktionsfreudige Muslim schaffe Deutschland ab. Die bürgerliche Mitte adelte beide Diskussionen, oder sagen wir besser, beide Stränge des Ressentiments. Das wissen die meisten natürlich auch, und sei es nur unterschwellig. Daher versuchen sie sich jetzt mit der These vom Einzeltäter doch noch auf die Seite der Guten zu retten. (
Ines Kappert, taz, 25.07.11)
Jeder einigermaßen intelligente Internetuser kann sich nicht ernsthaft über Menschen mit dem kruden Hassweltbild Breiviks wundern.
Wir kennen all diese mordlüsternen Horroransichten, die von Kreuznet, PI, Altermedia und Co jede Minute verbreitet werden.
Wir wissen alle wie einfach es den bekannten rechten publizistischen Populisten (Broder, Baring, Sarrazin) und politischen Populisten (Wilders, van Gogh, Schill, Brunner, von Stahl, René Stadtkewitz, Fortuyn, Haider) gemacht wird ihr Süppchen zu kochen.
Nach Quoten lechzend laden die Wills und Illners diese Hetzer regelmäßig in ihre Talkshows, damit diese dort seelenruhig ihre Gülle ausbreiten können.
Es gibt jetzt jedoch eine leichte Hoffnung, daß nach der Erkenntnis welche Früchte Sarrazinsches Gedankengut trägt, mit mehr Zurückhaltung Podien für Aufhetzter ihres Schlages geschaffen werden.
Es darf dabei auch nicht vergessen werden, daß der Boden für rechte Hassideologen auch von Kirchenleuten geschürt werden, die in höchster Ehrerbietung mit „Eminenz“ und „Exzellenz“ angesprochen in ihrem royalen Rot im Kameraschein sitzen und von „Entartung“ (Kardinal Meisner), „gescheiterten Menschen“ (Kardinal Marx), "Sprungebreiter Aggressivität" (Ratzi) „Kinderholocaust“ (Bischof Müller) und „sündigen Menschen“ (Bischof Overbeck) sprechen, wenn sie gegen Schwule, Schwangere, Atehisten pöbeln.
Jedes Mal wenn sie das tun, wächst nämlich in den Breiviks dieser Welt die Erkenntnis, daß sie berechtigt, wenn nicht gar „verpflichtet“ wären gewaltsam gegen Minderheiten, Linke, Schwule, Atheisten, Muslime usw usf vorzugehen.
Und Ratzinger, der demnächst in allen Ehren von Frau Merkel und Herrn Wulff empfangen wird, streut noch das Salz in die Suppe, in dem er die revanchistische, deutschnationale Fraktion mit seiner Piusbrüder-Politik offensichtlich bestätigt.
Bis heute befinden sich die ultrarechten Antisemiten in den Armen des Papstes.
Bischof Williamson kann hetzen und den Holocaust leugnen so viel er will. Der Papst hat nicht etwa die Kontakte zu dem brauen Pack abgebrochen.
Nein, er hätschelt sie sogar mit seiner antisemitischen Karfreitagsfürbitte.
Nein, ich würde nicht so weit gehen, daß Mixa und Co Taten wie die von Utøya insgeheim befürworten.
Aber sie sollten intelligent genug sein, um zu wissen was sie mit ihrer fortlaufenden Hetze in einigen Köpfen anrichten.
Wenn sie aber intelligent genug sind, dann sind sie auch mitschuldig.
Einige rechte Foren haben weniger Skrupel.
„Abt. Schlimmer Finger: Gewalttätiger Anti-Sozialdemokratenprotest in Norwegen“ ist auf der Seite „Altermedia“ zu lesen, eines der populärsten Internetportale der rechtsextremen Szene in Deutschland. Was dann folgt, soll offenbar witzig sein. „Sozialdemokraten scheinen auch in Norwegen nicht beliebt zu sein, woran das nur liegen kann?“ 76 Jugendliche hat der Attentäter Andre Breivik auf der Insel Utøya erschossen. „Altermedia“ hat nur blanken Hohn für sie übrig. Die Opfer, so der Tenor des Blog-Eintrags, seien selber Schuld. Man müsse, schreibt der Verfasser weiter, dem Attentäter eine Handlung im Affekt zubilligen, „die angesichts der sozialdemokratischen Politik in Norwegen und Europa nachvollziehbar ist“. Die Freude der rechtsextremen Blogger über den Anschlag scheint deutlich durch.
[…]
Ersten empörten Reaktionen der Netzgemeinde über dessen offene Verhöhnung der norwegischen Opfer begegnete der rechtsradikale Blog mit folgenden Worten: „Unseren hiesigen Sensibelchen jedoch, die sich gestern ob des angeblichen Zynismusses unserer ersten Betrachtung über den Osloer Anschlag empörten, möchten wir an dieser Stelle sagen, daß wir davon nicht einen Satz zurücknehmen.“ Die „Aktion“ in dem Jugendlager der Sozialdemokraten, so die Blogger weiter, betrachte man stattdessen „mit Gelassenheit und einem Lächeln im Mundwinkel“. (
M. Bewarder und C. Kensche 25.07.11)
Noch wichtiger als die klare Schuldzuweisung an Broder, Mixa, Müller, Sarrazin und Co ist es aber, daß endlich ein Licht auf die widerliche braune Brut im Internet geworfen wird.
Anders Behring Breiviks "Manifest" mag krude sein, es ist aber nicht kruder und aggressiver als das, was auf islamfeindlichen Internetseiten diskutiert wird. Vom virtuellen Kampf im weltweiten Netz zum echten Terror - das ist das beunruhigend Moderne, das sich im Massaker von Oslo offenbart. Deshalb muss man den Hasspredigern dort, im Internet, entgegentreten. (
Matthias Drobinski, SZ, 25.07.11)
Da hat Drobinski völlig Recht.
Viel zu viele Jahre konnte sich die christlich-fundamentalistische-neonazistzische-deutschnationale-misogyne-islamfeindliche-homophobe Pest von Hakenkreuznet und Co im Internet tummeln, ohne daß irgendwer in der Politik auch nur daran dachte etwas dagegen zu unternehmen.
Er [Breivik] war nicht alleine.
Über Jahre hat der Mann aus Norwegen dort mitgeredet, ohne aufzufallen, viele hundert Seiten aus der Begründung seines Kampfes sind geklaut, kopiert von anderen Autoren der anti-islamischen, nationalen, sich als Kreuzritter fühlenden Bloggerszene. Der Mann war ein Einzeltäter, ein Psychopath. Aber er war nicht alleine. Am Sonntag heißt es zum Beispiel im Forum der deutschen Anti-Islam-Seite "politically incorrect" (die sich natürlich von der Gewalt distanziert): "Das Manifest an sich liest sich ausgezeichnet" - mit den Morden aber habe Breivik "mehr Schaden angerichtet, als er sich vorstellen kann". Die Gemeinde ist erschrocken, nicht so sehr darüber, dass da einer virtuellen Hass zu konkreten Morden hat werden lassen, sondern darüber, dass man nun strategisch in der Defensive ist. Vom virtuellen Kampf im weltweiten Netz zum echten Terror, das ist das beunruhigend Moderne, das sich im Massaker von Oslo offenbart. Da hat einer über Jahre sich sein Weltbild aus Versatzstücken aus dem Internet zusammengebaut, es verfeinert, mit anderen diskutiert, als ginge es für oder gegen ein Tempolimit auf Autobahnen. Nach der Tat hat er das Netz als weltweites Propagandainstrument genutzt. (
Matthias Drobinski, SZ, 25.07.11)
Die Zeit der Unschuld ist jetzt aber vorbei.
In Zukunft kann kein politisch Verantwortlicher mehr sagen, er habe nicht gewußt was sich im Netz zusammen braut und welchen Input konservative Bischöfe und rechte Publizisten der gewalttätigen rechten Szene geben.
Viele große Presseerzeugnisse mit überregionaler Reichweite analysieren heute genau das.