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Samstag, 29. Mai 2010

Das war damals eben so.

Von Schavan bis Lafontaine ist es auch im Mai 2010 immer noch Konsens, daß nur das Christentum moralische Orientierung bieten kann.
Diese falsche und dumme Einschätzung stellt Ursache und Wirkung auf den Kopf.

Wieso also äußern sich Frömmler an der Politfront in dieser absurden Art?
Klar, ein Bekenntnis zum Atheismus würde bestimmte Wähler vergraulen.
Ein Gerhard Schröder und ein Joschka Fischer konnten sich das leisten - aber auf der konservativen Seite ist dies naturgemäß etwas schwieriger.
Den moralischen Wert der christlichen Kirche, dieser Mörderorganisation, die über Jahrtausende regelmäßig zu Krieg, Folter und Genoziden aufforderte und mehr Tote auf dem Gewissen hat als Hitler, den moralischen Wert dieser Organisation zu beschwören mag immer noch vielfach opportun wirken.

Ganz so weit her ist es nämlich nicht mit der Aufklärung.
Kreationismus ist auf dem Vormarsch; Evangelikale werden weltweit immer reicher und vor allem einflussreicher.

Ich mag mich irren, aber ich habe nicht den Eindruck, daß Religion zum Beispiel Westerwelle, Merkel, Obama oder Hillary Clinton eine Herzensangelegenheit ist.
In den USA ist aber Konfessionslosigkeit immer noch ein Ausschlußkriterium. Kein Nichtchrist (Ausnahme: Juden) kann in die Regierung oder gar ins Weiße Haus einziehen.
Bei der derzeitigen deutschen Regierung (100 % Christen) dürfte es sich eher um ein in vorauseilendem Gehorsam abgegebenes Geplapper handeln.
Die Bürgerlichen wollen einfach keinen Ärger mit dem real existierenden Kirchismus.

Es gibt aber eben auch den Typ des tatsächlich überzeugten Polit-Christen; dazu gehören Schavan, Lafontaine, Rösler, Glück, (Andrea) Fischer, Göring-Eckhart, Beckstein u.v.a mehr.
Sie alle tun mehr als nötig, um in der Öffentlichkeit das Etikett „guter Christ“ abzubekommen.
Warum tun sie das also?
Ich kann es mir nach wie vor nicht erklären.

Dummheit wäre die naheliegende Antwort - aber man kann Lafontaine, Fischer oder Göring-Eckhart nicht ernsthaft Intelligenz absprechen.

Umso wichtiger erscheint es mir, daß man im Strudel der derzeitigen moralischen Bankrott-Entwicklungen der Christlichen Erziehung nicht einfach genüßlich zusieht, wie sich die usual supects selbst zerlegen.

Wie oft sitzen auch im Jahr 2010 Religionsbewegte im TV und antworten auf die Frage, wieso sie denn nicht schon früher etwas gegen die Mißbräuche unternommen hätten, mit zerknirschtem Gesicht, daß man es eben nicht gewußt habe und jetzt immer noch kaum glauben könne.

DAS IST BULLSHIT. Seit Jahrzehnten gibt es diese Berichte über hochperverse und sadistische Priester, die ihre Aggressionen an Kindern auslassen.
Solche Fälle sind sogar in großen bekannten Presseerzeugnissen immer wieder thematisiert worden - woher sollte ein Mikroblogger wie ich sonst seit Jahren die Informationen nehmen?

Wir dürfen die Christen nicht damit durchkommen lassen, daß sie weiterhin lügen und zum Wohle der Organisation auf die Opfer spucken.

Wahrlich stinkt der Fisch vom Kopfe her - das Brüderpaar an der Spitze der Katholischen Kirche ist das beste Beispiel:
Georg R. prügelte so besessen auf wehrlose Grundschüler ein, daß ihm dabei vor Raserei gelegentlich das Gebiss aus dem Maul flog und sein jüngerer Bruder Joseph R. war gar offiziell der oberste Vertuscher des Vatikans bis zum Jahr 2005.

Solche wirklich miesen und uneinsichtigen Typen gehören moralisch geächtet.

Vorgestern wurde der vorläufige Canisius-Bericht veröffentlicht.

Ursula Raue trat vor die Presse und es wurden - wieder einmal - die schlimmsten Befürchtungen übertroffen:
14 Jesuiten-Täter in sieben Jesuitenschulen und -einrichtungen und 205 verschiedene Kinder als Opfer dokumentiert. So far.
Selbst Frau Raue gibt zu, daß sie vermutlich noch wesentlich mehr Opfer noch gar nicht gehört habe. Hinweise gab es seit Dekaden; viele Täter waren sogar so bekannt für ihre Perversionen, daß sie sogar entsprechende Spitznamen hatten:

Sie hießen 'Pavian', weil sie oft auf den nackten Hintern der Kinder schlugen, oder 'Grabbelanton', weil der betreffende Pater junge Frauen begrapschte. Einer der Haupttäter, Wolfgang S., gegen den insgesamt 40 Hinweise vorliegen, erzählte Mitbrüdern sogar von seiner Schuld - aber es passierte nichts. Er blieb Lehrer und konnte weiter misshandeln. 1991 schrieb er ein Geständnis, aber die Taten ließ der Orden ungesühnt. Und auch ein offener Brief der Canisius-Schüler, in dem sie bereits 1981 auf Vorfälle hinwiesen, blieb ohne Folgen. Es wurde nur verschwiegen und versetzt.

Eine Kirche, die sich schon deswegen nicht ändern kann, weil sie sich unablässig auf ihre 2000-Jährige Geschichte beruft und somit unabhängig vom Zeitgeist sei, gehört für Menschen unter 18 Jahren verboten.
Das Traditionsargument ist vergiftet.
Das Argument ist ein Bumerang.
Nur weil etwas schon sehr lange falsch war, ist es heute nicht weniger falsch.
Wer sich nicht ändern will, weil etwas seit 2000 Jahren der einzige Maßstab war, muß sich umgekehrt auch heute für ihre Gräuel von früher anklagen lassen.
Eine Kirche, die sich anmaßt eine zeitgeistunabhängige Institution zu sein, ist moralisch sogar noch verwerflicher - denn dann hätte sie auch vor 50 Jahren und 100 Jahren und 200 Jahren wissen sollen, daß sie eine brutale Mißhandlungskultur verbreitet.

Das Vorgehen war tatsächlich immer gleich. Ob es nun Hexenverbrennung, Inquisition, Prügel in Klosterschulen, Folter-Tipps für Ustacha-Nazis, oder Genozidbefehle des Papstes handelte.
Die Kirche war und ist grausam.
Es ist keine Entschuldigung, daß „damals eben geprügelt wurde“; das ist nichts anderes als eine perfide Scheinausrede.

Außerdem widerlegt das Argument von der Alltäglichkeit der Kindermisshandlung das Argument „Wir haben ja bis 2010 VON NICHTS gewußt“.

Die Sueddeutsche veröffentlichte einige Beschwerdebriefe von Eltern aus den 50er und 60er Jahren, die Kinder an katholischen Schulen hatten.

Der kleine dicke Sopransolist Udo habe wie üblich die Prügel vor versammeltem Chor angekündigt bekommen. Dass er die Kinder noch warten ließ auf die Bestrafung bis zum nächsten Tag, war schon perfide. Als es so weit war, hatte Udo panische Angst und machte sich in die Hose. Dennoch und obwohl er sich mit Händen und Füßen gewehrt hat, ließ R. von dem Buben nicht ab. Vier ältere Chorknaben mussten Udo am Boden halten, damit R. zum Vollzug kommen konnte. Die Schreie des Opfers waren auch in den Nebenräumen zuhören ... Tatzen waren noch die freundlichste Form der Bestrafung. In Erinnerung blieben vor allem die Hiebe auf den Hintern mit dem Rohrstock. Ältere Sänger wurden angewiesen, die Delinquenten gebückt zu halten, damit R. auf sie einschlagen konnte. Bis zu zehn Mal.
(SZ, 17.4.2010)

Gegen die Prügelstrafe, speziell gegen die allgegenwärtigen Tatzen, gab es eine Art Naturheilmittel, nämlich die uralte und durch häufige Karl-May-Lektüre immer erneuerte These, dass der Indianer keinen Schmerz kennt, also ihn sich nicht anmerken lässt. Den Schmerz vertrieb dieses völkerkundliche Aperçu zwar in keiner Weise, aber man stand, wenn man es beherzigte, im Kreis der Kameraden besser da als einer, der zusammenzuckte oder womöglich sogar heulte.
(SZ, 14.4.2010)

Ein Knabe wurde auffällig, weil seine Schrift immer schlechter wurde und weil er überdies die Linien des Schreibhefts nicht korrekt einhalten konnte. Man nannte ihn alles Mögliche, gab ihm Kopfnüsse ohne Ende, stieß ihn auch mit dem Kopf aufs Schreibpult. Auf die Idee, einen Arzt oder wenigstens den durchaus versierten Krankenbruder zu Rate zu ziehen, kam jedoch niemand. Der Tumor, der im Gehirn des Kleinen saß, brachte die Sache auf seine Art zum Abschluss.
(SZ, 14.4.2010)

Der Gründungsvater des Knabenchores war ein Gewaltmensch. Er sei quer durch die Reihen gegangen und habe jedem Kind ins Gesicht geschlagen, das auf die Frage, wer eine Milchtüte auf dem Klavier habe stehenlassen, mit ,ich nicht" beantwortete. Der Pädagoge schlug dann so lange, bis sich derjenige meldete, der es gewesen war.
(SZ, 27.3.2010)

Ein Internatsleiter soll regelmäßig nach dem Mittagessen Schüler in seinem Büro empfangen haben. Sie durften dann auswählen, ob sie mit einer Peitsche verprügelt werden wollten oder mit dem Rohrstock.
(SZ, 27.3.2010)

Ja, daß Priester Kinder misshandelten gab es tatsächlich immer.
"Früher" war das Prügeln an der Tagesordnung.

Aber es war damals ein Verbrechen und ist es noch heute.

Jedenfalls nach meiner zeitgeistunabhängigen Moral!

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