Mittwoch, 15. September 2010
Wer in den Dolomiten kräht.
Heute war mal wieder die berühmte Generalaussprache im Bundestag.
Sigmar Gabriel, einer der durchaus reden kann, begann die Debatte.
Seit seiner inzwischen legendären Bewerbungsrede zum Parteivorsitzenden weiß man, daß er begeistern kann.
Anders als auf dem SPD-Parteitag vom November 2009, hatte er heute leichtes Spiel.
Eine Regierung, die von Kommentatoren aller Couleur nüchtern als die schlechteste aller Zeiten angesehen wird, bietet dem Oppositionsführer Angriffspunkte im Überfluss.
Totalversagen, Klientelpolitik und Umgangsformen gegen die ein 68er-Kinderladen eine Kadettenanstalt gewesen sei lauteten die Vorwürfe des SPD-Chefs.
Harrsche Worte, die aber angesichts der Schwarzgelben Desasterperformance eher durchschnittlich wirken.
Aber Gabriel führte Union und FDP auch die Fehlentscheidung, Hoteliers und vermögenden Erben Steuergeschenke zu verschaffen, während parallel dazu der FDP-Vizekanzler Guido Westerwelle eine scharfe Sozialdebatte über Langzeitarbeitslose vom Zaun brach, vor Augen. Genau wie den Verdacht, die Regierung bediene die Interessen einzelner Lobbygruppen und verliere darüber das Wohl des Volkes aus dem Blick. Die Debatte um die Verlängerung der Atomlaufzeiten dienten ihm als jüngstes Beispiel. „Keinerlei Vorstellung von Gemeinwohl“, habe Schwarz-Gelb, warf der SPD-Vorsitzende unter lautem Beifall der gesamten Opposition dem Regierungsbündnis vor und attestierte schließlich: „Noch nie ist eine Regierung so heruntergekommen.“
[…] Gabriel allerdings gelang an diesem Mittwochmorgen mehr: Er warf Außenminister Westerwelle vor, was selbst unter schwarz-gelben Außenpolitikern mittlerweile Konsens ist. Dass nämlich Westerwelle „Deutschland unter seiner Bedeutung“ regiere und keinerlei außenpolitische Impulse setzt. Er nennt den FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle den „größten Abstauber“ der Politik, weil er vor zwei Jahren gegen Konjunkturprogramme gestimmt hatte, und sich nun im Wirtschaftsaufschwung sonne. Ein Messerstich ins Herz vor allem wirtschaftsfreundlicher Unionspolitiker, die sich dereinst vom Oppositionspolitiker Brüderle beschimpfen lassen mussten, um nun zuzusehen, wie der gleiche Brüderle eine positive Konjunkturbotschaft nach der anderen verkündet und so tut, als sei er dafür verantwortlich. Und auch den Sozialpolitikern in den schwarz-gelben Reihen ersparte Gabriel nichts. „Ohne jeden wirtschaftspolitischen Verstand“ regiere Schwarz-Gelb und treibe damit die soziale Spaltung der Bevölkerung weiter voran. „Die einen leben in Saus und Braus“, sagte Gabriel unter Verweis auch auf die Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger, „und die anderen müssen die Zeche zahlen.“ Ein Resümee, das die Anwesenden von Union und FDP traf: Wie in flagranti beim Klauen erwischte Rotznasen saßen die versammelten Koalitionäre beinahe regungs-, auf jeden Fall aber wehrlos auf ihren Stühlen und ließen sich von Gabriel herunterputzen.
(Antje Sirleschtov 15.09.10)
Merkel konterte, indem sie einen „Herbst der Entscheidungen“ ankündigte und herausstellte, daß sie und mit ihr schwarz-gelb die Arbeitslosigkeit von über fünf auf unter drei Millionen gesenkt hätten.
Die Arbeitsminister Müntefering und Scholz hat sie dabei ausgelassen. Nicht erwähnt wurden auch die 2,4 Millionen Aufstocker, die so prekär bezahlt werden, daß ihr Lohn noch unter dem Hartz-Satz liegt.
Wie bei den Generaldebatten üblich durfte hernach reihum jeder einmal seinen Frust ablassen.
Die Oppositionsparteien warfen der Kanzlerin immer wieder vor, das nie dagewesene Maß an Lobbyhörigkeit der Regierung sei eine echte Gefahr für die Demokratie; daß Politikverdrossenheit gefördert würde.
Man kann nur vor Empörung beben, wenn man mit ansieht, wie Pharmakonzerne, Banken und das Atomoligopol ihre Wunschgesetzgebungen diktieren und Merkel dann nur noch unterschreibt.
Wer wie Arbeitslose oder Geringverdiener keine Lobby hat, wird stattdessen geschröpft.
Die wenig heroische Regierungspraxis erklärt Jürgen Trittin am Beispiel der Medikamentenverordnung.
Jetzt gucken wir uns an, wie regiert wird. Da machen Sie etwas ganz Modernes: Outsourcing. Sie lassen Ihren Gesetzentwurf vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller schreiben. Dann beginnt das eigentliche Regieren: Mit der Maus wird der Text markiert, ausgeschnitten und in das Gesetzblatt kopiert. Dann kommt die geistige Eigenleistung des Ministers dazu: Er fügt eine Apposition ein, die lautet: ohne Zustimmung des Bundesrates.
Das hatten die Pharmalobbyisten dummerweise vergessen. Meine Damen und Herren, jeder Studierende, der bei so etwas erwischt wird, fliegt durch die Prüfung. Aber Sie versuchen uns zu erklären, das sei Regierungshandeln!
(Jürgen Trittin am 15.09.10)
In einem Punkt muß ich aber der Bundestagsopposition widersprechen:
Die Politikverdrossenheit ist bei mir jedenfalls noch nicht angekommen. Ich fand die Bundestagsdebatte ausgesprochen amüsant und kann jedem nur empfehlen sich ein paar Reden anzuhören (die meisten sind noch online) oder nachzulesen.
Im Gegensatz zur lahmen großen Koalition ist da jetzt mal wieder was los - obwohl der beste Redner der letzten beiden Dekaden, Joschka Fischer, noch keinen Nachfolger gefunden hat.
Trittin ist ein weniger guter Rhetor, aber inhaltlich voll überzeugend und durchaus auch mal witzig, wie zum Beispiel sein Einstieg belegt.
Frau Merkel, in Ihrem Urlaub waren Sie irgendwo in den Dolomiten. Dort ist es schön. Wenn morgens etwas kräht, dann ist es der Hahn und nicht Guido Westerwelle. Trifft man auf schwerverständliche Einheimische, dann heißen sie Reinhold Messner und nicht Horst Seehofer. Statt Gurkentruppen und Wildsäue gibt es Steinpilze und Gämsen. Irgendwo dort zwischen Ortler und Latemar müssen Sie beschlossen haben, endlich Ihrem Wählerauftrag nachkommen und - zwölf Monate nach der letzten Bundestagswahl - regieren zu wollen. Das haben Sie heute hier zum Ausdruck zu bringen versucht. Ist das aber eigentlich auch in Ihrem Kabinett, in Ihrer Mannschaft, angekommen und verstanden worden? Was versteht diese Bundesregierung und was versteht diese Koalition unter Regieren? Das ist doch die spannende Frage, wenn man festgestellt hat: Zwölf Monate lang ist nicht regiert worden, und jetzt versucht man, zu regieren. […]
(Jürgen Trittin am 15.09.10)
Der immerhin frei sprechende Volker Kauder, der in der letzten Woche schon wieder kundtat seinen Freund Peter Struck zu vermissen* war not amused und gab sich gänzlich humorbefreit.
Herr Trittin, Sie reden von Politikverdrossenheit. Ich muss Ihnen eines sagen - ich hätte Ihnen das gern erspart, weil ich mich gern inhaltlich mit Ihnen auseinandersetzen würde -: Die Art Gekasper, mit der Sie Ihre Rede begonnen haben, schürt Politikverdrossenheit. Ihnen fehlt die Ernsthaftigkeit in einer Zeit, in der es genau auf diesen Ernst ankommt. Um es klar zu sagen: Die Herausforderungen sind groß genug. Wir können uns nicht aufführen wie auf einem grünen Abenteuerspielplatz. Ich erwarte mehr Ernsthaftigkeit, aber die ist offenbar bei Ihnen fehl am Platz.
(Volker Kauder 15.09.10)
Kauder irrt in diesem Punkt.
Trittin hat nicht Politikverdrossenheit geschürt, sondern lediglich die CDU-Verdrossenheit.
*Daß der Unionsfraktionschef so wehmütig an seinen Buddy Struck denkt, mag daran liegen, daß er es statt mit dem gestandenen und verlässlichen Sozi-Urgestein nun mit Birgit Homburger zu tun hat.
Die Rede der FDP-Fraktionsvorsitzenden kann ich leider nicht kommentieren, da bei mir nach kürzester Zeit Ohrenbluten einsetzte, als Homburger ans Pult trat.
Scheinbar reagiert mein akustischer Sinnesapparat bei so einer geballten Form von Lügen doch zu empfindlich.
Abgesehen von lustigen Sprachbildern und bizarren Grimassen auf der Regierungsbank durften wir sogar eine echte Überraschung erleben.
Merkel bezog in einem Punkt Position!
Das ist an sich schon ein kleines Wunder, aber es war ein Donnerschlag, daß sie sich zu konkreten Sätzen hinreißen ließ bei einem Thema, das gar nicht auf der Tagesordnung stand, bei dem niemand außer mir eine Stellungnahme der Kanzlerin gefordert hatte:
Stuttgart 21.
Merkel verschrieb sich dem Milliardengrab und manövrierte sich damit in eine NoWin-Situation.
Offensichtlich hat die Kanzlerin den Ratschlag ihres Freundes Donald Rumsfeld an deutsche Kanzler - „wenn man schon im Loch sitzt, sollte man aufhören zu graben“ - glatt vergessen und sich ohne Not das schwäbische Bahndesaster ans Bein gebunden.
In der Haushaltsdebatte des Bundestags betonte Merkel, sie stelle sich voll hinter den Umbau des Bahnhofs. Weiter sagte die CDU-Chefin, eine Volksabstimmung über das umstrittene Bauvorhaben sei nicht nötig. Die Landtagswahl Ende März 2011 werde "die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte sein". Merkels Unterstützung für das Stuttgarter Milliardenprojekt kommt überraschend. In der Vergangenheit hatte die Kanzlerin selten so eng auf ein Vorhaben gesetzt, dessen politische Risiken derzeit niemand einschätzen kann. Seit Wochen demonstrieren regelmäßig Tausende gegen die Umbaupläne im Stadtzentrum. Die schwarz-gelbe Landesregierung in Stuttgart hat als Reaktion auf den Konflikt laut Umfragen derzeit keine Mehrheit mehr. Zuletzt ermittelten Meinungsforscher für SPD und Grüne insgesamt 48 Prozent - CDU und FDP kommen zusammen nur auf 40 Prozent. Bemerkenswert ist dabei, dass die Grünen derzeit mit 27 Prozent deutlich vor der SPD liegen, die 21 Prozent erhalten würde. Trotz dieser Ausgangslage gab die Kanzlerin der baden-württembergischen Landesregierung ungewöhnlich eindeutig volle politische Rückendeckung. Zugleich griff sie die Grünen und die SPD scharf an. Beiden Parteien warf sie vor, sie hätten sich bislang stets für Schienenprojekte eingesetzt. Jetzt aber, wo es Proteste gebe, wichen sie zurück. "Diese Art von Standhaftigkeit ist es genau nicht, die Deutschland voranbringt." Merkel verbindet wie der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus mit diesem Konflikt offenbar auch die Frage, ob in Deutschland derlei Großprojekte überhaupt noch umgesetzt werden können, sollten diese noch in Frage gestellt werden, obwohl bereits alle demokratischen und juristischen Instanzen durchlaufen sind. Die Grünen begrüßten Merkels klares Eintreten für das Projekt, weil sie darin eine große Chance sehen, bei den Landtagswahlen am 27. März 2011 zu gewinnen. Die Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, sagte der Leipziger Volkszeitung, diese Wahl könne sich bis hin zur "Existenz der Bundesregierung" auswirken.
(Stefan Braun 15.09.10)
Dann mal los! Ich freue mich schon auf die nächste Bundestagsdebatte.
Gut, daß es Phoenix gibt.
Einige Auszüge von heute:
Zuletzt urteilte der FDP-Gesundheitsminister Rösler “Eigentlich ist das keine Koalition, sondern eine schlagende Verbindung.“ „Wildsäue“ und „Gurkentruppe“: das sind ja Selbstbeschreibungen aus Ihren Reihen. Es fällt schwer, das alles als Oppositionsredner zu toppen – jedenfalls dann, wenn man eine mitteleuropäische Erziehung genossen hat. Wie konnte es passieren, dass eine Regierung so herunter gekommen ist? Der Grund für diese katastrophale Jahresbilanz ist nicht nur, dass sie handwerklich schlecht arbeiten. Der eigentliche Grund ist, dass Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und Ihrem Wunschpartner von Anfang an der Kompass, die Orientierung und der Wille zum Gemeinwohl fehlte. Das Wort „Gemeinwohl“ kommt deshalb in Ihrem Ehevertrag mit Herrn Westerwelle auch gar nicht vor. Warum auch, wo sie doch nur dann wirklich regieren, wenn Klientelinteressen bedient werden. Am Anfang haben wir Sie ja dafür kritisiert, dass Sie gar nicht regiert haben. Denn alle schwierigen Entscheidungen hatten Sie ja bis nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen verschoben. Monatelang haben Sie versucht, die Deutschen hinters Licht zu führen. Und als die Wahl in NRW vorbei war, wussten wir: es ist noch schlimmer, wenn Sie tatsächlich regieren.
[…] Denn es gibt einen Aufschwung und wir freuen uns darüber. Aber Sie werden sicher verstehen, warum wir es schon als Satire empfinden, dass ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister sich damit brüstet, dazu einen Beitrag geleistet zu haben. Sie, Herr Brüderle, haben doch am 4. Dezember 2008 gegen das Konjunkturpaket und am 28. 5. 2009 gegen die Verlängerung der Abwrackprämie gestimmt. Sie und Ihre FDP waren doch gegen fast alles, was diesen Aufschwung möglich gemacht hat. Herr Westerwelle hat das Konjunkturpaket damals an diesem Pult hier als „Schrott“ und „Flickschusterei“ verdammt. Herr Brüderle hat das Konjunkturpaket damals als „harte Droge“ abgelehnt. Und heute schwadroniert er vom „Aufschwung XL“, den er angeblich befördert habe! In Wahrheit, Herr Brüderle, sind Sie nur der größte Abstauber, den Deutschland seit langem gesehen hat. […] Wir erinnern uns noch gut, welche Reden der Außenminister hier im Deutschen Bundestag zur Finanzmarkt- und Währungskrise geschwungen hat. Z.B. am 7. Mai 2010: „Es weiß jeder, dass wir diesen Spekulationen Einhalt gebieten müssen. Wir müssen doch erkennen, dass wir – auch für unser Land – eine Aufgabe zu erfüllen haben.“ Wohl wahr, Herr Westerwelle. Aber warum hören wir eigentlich nichts zu diesen Initiativen, die Sie da ergreifen wollten? Was haben Sie nun eigentlich nach fast einem Jahr im Amt wirklich vorzuweisen? Ihr Kabinettskollege Norbert Röttgen hat im „Stern“ über Sie gesagt, Sie seien „irreparabel beschädigt“. Das war sicher nicht nett von Herrn Röttgen, aber es ist ja wahr. Seit Sie Ihre Partei schneidig an die Wand gefahren haben, ist von Ihnen nicht mehr viel zu hören. Sie haben als Außenminister im ersten Amtsjahr keinen einzigen wahrnehmbaren Impuls gesetzt. Deutschland hat sich unter Ihrer Führung als Akteur von der internationalen Bühne abgemeldet. Sogar die Diplomaten im Auswärtigen Amt sind verzweifelt. Wir nutzen unsere Möglichkeiten nicht, wir verlieren an Gewicht in der Welt, wir verspielen Ansehen, jeden Tag. Sie, Herr Westerwelle, haben viel dazu beigetragen, dass Deutschland weit unter Wert und unter seiner internationalen Bedeutung regiert wird.
[…] Ich weiß ja aus meiner Zeit als Umweltminister: Herr Ramsauer ist wahrer Filigrantechniker der Energieeffizienz. Und ehrlich gesagt: ich finde die Tatsache, dass jetzt Herr Röttgen und Herr Schäuble mit ihm klar kommen müssen, einen wirklich gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich. Da schustern Sie vier großen Konzernen 100 Milliarden Euro zu. Sagen Sie mal Herr Brüderle, Sie gerieren sich doch so gerne als Wettbewerbsfreund und als Mittelständler. Sie predigen Wettbewerb – in Wahrheit bedienen die Oligopole. Größeren Schaden für den Wettbewerb auf dem Energiemarkt konnten Sie gar nicht anrichten als mit diesem Geschenk. Ich will mit Ihnen gar nicht über den ökologischen Sinn oder Unsinn der Atomenergie streiten. Und auch nicht über die wirklich widersinnige Politik gegen einen der wichtigsten Leitmärkte, den Deutschland entwickelt hat: die erneuerbaren Energien mit inzwischen 300.000 neuen Jobs. Die mögliche Verdoppelung auf 600.000 bis zum Jahr 2020 haben Sie eben gerade gründlich ausgebremst. Denn wenn Sie wirklich glauben, diesen vier Konzernen die Förderung der Unternehmen der Erneuerbaren Energien anvertrauen zu können– einer zutiefst mittelständischen Branche – dann glauben Sie vermutlich auch, dass man Gänse von Weihnachten überzeugen kann. Hier hat sich nur ein Interesse durchgesetzt: mit alten abgeschriebenen Atomkraftwerken pro Tag eine Million Euro zu verdienen. Sie haben mal wieder einer Wirtschaftslobby nachgegeben. Mehr nicht.
(Gabriel)
Die Frage muss erlaubt sein, wer in diesem Lande eigentlich regiert. Das schlimmste Beispiel ist die Vereinbarung zur Energiepolitik. Sie haben, nachdem 40 Unsympathen übrigens alle Männer per Anzeige eine Laufzeitverlängerung gefordert haben, umgehend Gehorsam gezeigt und Vollzug gemeldet. Sie haben die Laufzeiten mehr verlängert, als die Industrie selbst in den Verhandlungen zum Konsens verlangt hat. Sie verdoppeln die Reststrommenge. Sie erhöhen die Menge des Atommülls. Wenn Sie in dieser Situation hier sagen, dass Sie Verantwortung in der Endlagerfrage übernehmen wollen, dann frage ich erstens: Was ist das für eine Verantwortung, die das Problem vergrößert und nicht verkleinert? Das Zweite ist ganz persönlich: Ich war in der schlimmen Situation, Ihr Erbe aus Morsleben übernehmen zu müssen. Ich habe an den Salzhöhlen gestanden, die von oben über den verrotteten Fässern herunterbröckelten; das haben Sie zu verantworten. Da wollte die Umweltministerin Merkel Atommüll aus Westdeutschland einlagern. Wir mussten das nicht nur stoppen, sondern auch aufwendig mit viel Geld sanieren. Wenn Sie sagen, dass Sie Verantwortung übernehmen wollen, und in dem Zusammenhang auf Gorleben verweisen, dann sage ich Ihnen: Wenn Ihre Morsleben-Politik die Perspektive für Gorleben ist, dann übernehmen Sie keine Verantwortung. Dann empfindet die Mehrheit der Bevölkerung dieses Landes dies als eine massive Bedrohung ihrer Sicherheit. Ausweislich Ihrer eigenen Gutachten wollen Sie den Ausbau erneuerbarer Energien jedes Jahr um 20 Prozent reduzieren; das haben Sie selber aufschreiben lassen. Sie machen mit Ihrer Laufzeitverlängerung Deutschland von Stromimporten abhängig. Bis zu 31 Prozent des Stroms sollen nach Ihren Energieszenarien künftig importiert werden. Was hat das mit Energiesicherheit zu tun? Was hat das mit Brückentechnologie zu tun? Das ist das Geschäftsmodell von RWE, das Sie uns hier verkaufen. Wenn Sie das mit der Brückentechnologie ernst meinten, dann müssten Sie angesichts der gewaltigen Exportüberschüsse, die wir mittlerweile dank der erneuerbaren Energien in diesem Land erzielen, schneller aus der Atomenergie aussteigen. Wenn man die Frage ernsthaft stellt, wessen Regierung Sie sind, dann lautet die Antwort: Sie, Frau Merkel, sind die Kanzlerin von RWE, Eon, EnBW und Vattenfall. Die Richtlinien der Energiepolitik werden von Jürgen Großmann von RWE geschrieben, nicht mehr von einem gewählten Kabinett. Diese Unternehmen profitieren mit 100 Milliarden Euro. Dennoch behaupten Sie, die 14 Milliarden Euro, die für Energieeffizienz davon abgezweigt werden, würden das ausgleichen. Nein, das ist etwas mehr als das, was Sie den Stadtwerken in diesem Land wegnehmen. Sie reduzieren den Wettbewerb. Sie sorgen für höhere Preise. Das ist Ihre Energiepolitik. Das Schlimmste aber ist: Sie haben Sicherheit gegen Geld verdealt, übrigens unter Ausschluss des Herrn Umweltministers. Er durfte nicht mit am Tisch sitzen, wie wir heute Morgen erfahren haben. Der Umweltminister kommt auch in einem anderen Bereich zu einem interessanten Ergebnis. Er hat ein Gutachten zur Frage der Zustimmungspflichtigkeit in Auftrag gegeben, ein Gutachten, das er Herrn Papier, den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, schreiben ließ. Herr Papier kommt zu dem Ergebnis, zu dem fast alle Verfassungsrechtler kommen: Laufzeitverlängerungen sind zustimmungspflichtig. Der gleiche Herr Röttgen wird uns aber hier ein Gesetz vorlegen, das ohne Zustimmung des Bundesrates verabschiedet werden kann; das hat er angekündigt. Lieber Herr Röttgen, man kann sich irren, aber vorsätzlich ein verfassungswidriges Gesetz einzubringen, gehört sich nicht für einen Minister.
(Trittin 15.09.10)
Ich darf daran erinnern, dass wir innerhalb einer einzigen Woche über 480 Milliarden Euro entschieden haben. Dagegen sind für die Beratung des Bundeshaushalts, der 320 Milliarden Euro umfasst, mehrere Monate nötig. Das ist aber noch nicht einmal das Problem. Das Problem ist: Sie haben festgelegt, dass eine Handvoll Leute, die alle nicht im Bundestag sitzen, über die Verwendung des Geldes entscheiden. Es gibt einen Ausschuss des Bundestages, der geheim tagt. Er darf aber nichts entscheiden, sondern nur Fragen stellen. Die Antworten, die er bekommt, darf er uns noch nicht einmal mitteilen. Das ist eine Entmachtung des Bundestages, die der Bundestag selbst beschlossen hat. Genau das ist grundgesetzwidrig.
Frau Kanzlerin, heute sprechen Sie doch allen Ernstes von der Bankenabgabe. Ich bitte Sie! Sie wollen nur gut 1 Milliarde Euro haben. Außerdem ist das Konzept völlig falsch angelegt, weil die Sparkassen mit einbezahlen sollen. Sie haben aber nichts mit dieser Krise zu tun, und deshalb sind sie diesbezüglich auch nicht zahlungspflichtig. Das Geld in Höhe von 1 Milliarde Euro soll ja nicht zum Schuldenabbau genutzt werden, sondern es soll in einen Fonds gesteckt werden, damit bei der nächsten Krise darauf zugegriffen werden kann. Sie wissen nämlich, dass Sie nichts unternommen haben, damit es keine nächste Krise gibt. Angesichts von 480 Milliarden Euro brauchen wir etwa 480 Jahre, bis wir das Geld zusammenhaben. Das ist wirklich eine sehr langfristige Politik.
(Gregor Gysi 15.09.10)
Sigmar Gabriel, einer der durchaus reden kann, begann die Debatte.
Seit seiner inzwischen legendären Bewerbungsrede zum Parteivorsitzenden weiß man, daß er begeistern kann.
Anders als auf dem SPD-Parteitag vom November 2009, hatte er heute leichtes Spiel.
Eine Regierung, die von Kommentatoren aller Couleur nüchtern als die schlechteste aller Zeiten angesehen wird, bietet dem Oppositionsführer Angriffspunkte im Überfluss.
Totalversagen, Klientelpolitik und Umgangsformen gegen die ein 68er-Kinderladen eine Kadettenanstalt gewesen sei lauteten die Vorwürfe des SPD-Chefs.
Harrsche Worte, die aber angesichts der Schwarzgelben Desasterperformance eher durchschnittlich wirken.
Aber Gabriel führte Union und FDP auch die Fehlentscheidung, Hoteliers und vermögenden Erben Steuergeschenke zu verschaffen, während parallel dazu der FDP-Vizekanzler Guido Westerwelle eine scharfe Sozialdebatte über Langzeitarbeitslose vom Zaun brach, vor Augen. Genau wie den Verdacht, die Regierung bediene die Interessen einzelner Lobbygruppen und verliere darüber das Wohl des Volkes aus dem Blick. Die Debatte um die Verlängerung der Atomlaufzeiten dienten ihm als jüngstes Beispiel. „Keinerlei Vorstellung von Gemeinwohl“, habe Schwarz-Gelb, warf der SPD-Vorsitzende unter lautem Beifall der gesamten Opposition dem Regierungsbündnis vor und attestierte schließlich: „Noch nie ist eine Regierung so heruntergekommen.“
[…] Gabriel allerdings gelang an diesem Mittwochmorgen mehr: Er warf Außenminister Westerwelle vor, was selbst unter schwarz-gelben Außenpolitikern mittlerweile Konsens ist. Dass nämlich Westerwelle „Deutschland unter seiner Bedeutung“ regiere und keinerlei außenpolitische Impulse setzt. Er nennt den FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle den „größten Abstauber“ der Politik, weil er vor zwei Jahren gegen Konjunkturprogramme gestimmt hatte, und sich nun im Wirtschaftsaufschwung sonne. Ein Messerstich ins Herz vor allem wirtschaftsfreundlicher Unionspolitiker, die sich dereinst vom Oppositionspolitiker Brüderle beschimpfen lassen mussten, um nun zuzusehen, wie der gleiche Brüderle eine positive Konjunkturbotschaft nach der anderen verkündet und so tut, als sei er dafür verantwortlich. Und auch den Sozialpolitikern in den schwarz-gelben Reihen ersparte Gabriel nichts. „Ohne jeden wirtschaftspolitischen Verstand“ regiere Schwarz-Gelb und treibe damit die soziale Spaltung der Bevölkerung weiter voran. „Die einen leben in Saus und Braus“, sagte Gabriel unter Verweis auch auf die Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger, „und die anderen müssen die Zeche zahlen.“ Ein Resümee, das die Anwesenden von Union und FDP traf: Wie in flagranti beim Klauen erwischte Rotznasen saßen die versammelten Koalitionäre beinahe regungs-, auf jeden Fall aber wehrlos auf ihren Stühlen und ließen sich von Gabriel herunterputzen.
(Antje Sirleschtov 15.09.10)
Merkel konterte, indem sie einen „Herbst der Entscheidungen“ ankündigte und herausstellte, daß sie und mit ihr schwarz-gelb die Arbeitslosigkeit von über fünf auf unter drei Millionen gesenkt hätten.
Die Arbeitsminister Müntefering und Scholz hat sie dabei ausgelassen. Nicht erwähnt wurden auch die 2,4 Millionen Aufstocker, die so prekär bezahlt werden, daß ihr Lohn noch unter dem Hartz-Satz liegt.
Wie bei den Generaldebatten üblich durfte hernach reihum jeder einmal seinen Frust ablassen.
Die Oppositionsparteien warfen der Kanzlerin immer wieder vor, das nie dagewesene Maß an Lobbyhörigkeit der Regierung sei eine echte Gefahr für die Demokratie; daß Politikverdrossenheit gefördert würde.
Man kann nur vor Empörung beben, wenn man mit ansieht, wie Pharmakonzerne, Banken und das Atomoligopol ihre Wunschgesetzgebungen diktieren und Merkel dann nur noch unterschreibt.
Wer wie Arbeitslose oder Geringverdiener keine Lobby hat, wird stattdessen geschröpft.
Die wenig heroische Regierungspraxis erklärt Jürgen Trittin am Beispiel der Medikamentenverordnung.
Jetzt gucken wir uns an, wie regiert wird. Da machen Sie etwas ganz Modernes: Outsourcing. Sie lassen Ihren Gesetzentwurf vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller schreiben. Dann beginnt das eigentliche Regieren: Mit der Maus wird der Text markiert, ausgeschnitten und in das Gesetzblatt kopiert. Dann kommt die geistige Eigenleistung des Ministers dazu: Er fügt eine Apposition ein, die lautet: ohne Zustimmung des Bundesrates.
Das hatten die Pharmalobbyisten dummerweise vergessen. Meine Damen und Herren, jeder Studierende, der bei so etwas erwischt wird, fliegt durch die Prüfung. Aber Sie versuchen uns zu erklären, das sei Regierungshandeln!
(Jürgen Trittin am 15.09.10)
In einem Punkt muß ich aber der Bundestagsopposition widersprechen:
Die Politikverdrossenheit ist bei mir jedenfalls noch nicht angekommen. Ich fand die Bundestagsdebatte ausgesprochen amüsant und kann jedem nur empfehlen sich ein paar Reden anzuhören (die meisten sind noch online) oder nachzulesen.
Im Gegensatz zur lahmen großen Koalition ist da jetzt mal wieder was los - obwohl der beste Redner der letzten beiden Dekaden, Joschka Fischer, noch keinen Nachfolger gefunden hat.
Trittin ist ein weniger guter Rhetor, aber inhaltlich voll überzeugend und durchaus auch mal witzig, wie zum Beispiel sein Einstieg belegt.
Frau Merkel, in Ihrem Urlaub waren Sie irgendwo in den Dolomiten. Dort ist es schön. Wenn morgens etwas kräht, dann ist es der Hahn und nicht Guido Westerwelle. Trifft man auf schwerverständliche Einheimische, dann heißen sie Reinhold Messner und nicht Horst Seehofer. Statt Gurkentruppen und Wildsäue gibt es Steinpilze und Gämsen. Irgendwo dort zwischen Ortler und Latemar müssen Sie beschlossen haben, endlich Ihrem Wählerauftrag nachkommen und - zwölf Monate nach der letzten Bundestagswahl - regieren zu wollen. Das haben Sie heute hier zum Ausdruck zu bringen versucht. Ist das aber eigentlich auch in Ihrem Kabinett, in Ihrer Mannschaft, angekommen und verstanden worden? Was versteht diese Bundesregierung und was versteht diese Koalition unter Regieren? Das ist doch die spannende Frage, wenn man festgestellt hat: Zwölf Monate lang ist nicht regiert worden, und jetzt versucht man, zu regieren. […]
(Jürgen Trittin am 15.09.10)
Der immerhin frei sprechende Volker Kauder, der in der letzten Woche schon wieder kundtat seinen Freund Peter Struck zu vermissen* war not amused und gab sich gänzlich humorbefreit.
Herr Trittin, Sie reden von Politikverdrossenheit. Ich muss Ihnen eines sagen - ich hätte Ihnen das gern erspart, weil ich mich gern inhaltlich mit Ihnen auseinandersetzen würde -: Die Art Gekasper, mit der Sie Ihre Rede begonnen haben, schürt Politikverdrossenheit. Ihnen fehlt die Ernsthaftigkeit in einer Zeit, in der es genau auf diesen Ernst ankommt. Um es klar zu sagen: Die Herausforderungen sind groß genug. Wir können uns nicht aufführen wie auf einem grünen Abenteuerspielplatz. Ich erwarte mehr Ernsthaftigkeit, aber die ist offenbar bei Ihnen fehl am Platz.
(Volker Kauder 15.09.10)
Kauder irrt in diesem Punkt.
Trittin hat nicht Politikverdrossenheit geschürt, sondern lediglich die CDU-Verdrossenheit.
*Daß der Unionsfraktionschef so wehmütig an seinen Buddy Struck denkt, mag daran liegen, daß er es statt mit dem gestandenen und verlässlichen Sozi-Urgestein nun mit Birgit Homburger zu tun hat.
Die Rede der FDP-Fraktionsvorsitzenden kann ich leider nicht kommentieren, da bei mir nach kürzester Zeit Ohrenbluten einsetzte, als Homburger ans Pult trat.
Scheinbar reagiert mein akustischer Sinnesapparat bei so einer geballten Form von Lügen doch zu empfindlich.
Abgesehen von lustigen Sprachbildern und bizarren Grimassen auf der Regierungsbank durften wir sogar eine echte Überraschung erleben.
Merkel bezog in einem Punkt Position!
Das ist an sich schon ein kleines Wunder, aber es war ein Donnerschlag, daß sie sich zu konkreten Sätzen hinreißen ließ bei einem Thema, das gar nicht auf der Tagesordnung stand, bei dem niemand außer mir eine Stellungnahme der Kanzlerin gefordert hatte:
Stuttgart 21.
Merkel verschrieb sich dem Milliardengrab und manövrierte sich damit in eine NoWin-Situation.
Offensichtlich hat die Kanzlerin den Ratschlag ihres Freundes Donald Rumsfeld an deutsche Kanzler - „wenn man schon im Loch sitzt, sollte man aufhören zu graben“ - glatt vergessen und sich ohne Not das schwäbische Bahndesaster ans Bein gebunden.
In der Haushaltsdebatte des Bundestags betonte Merkel, sie stelle sich voll hinter den Umbau des Bahnhofs. Weiter sagte die CDU-Chefin, eine Volksabstimmung über das umstrittene Bauvorhaben sei nicht nötig. Die Landtagswahl Ende März 2011 werde "die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte sein". Merkels Unterstützung für das Stuttgarter Milliardenprojekt kommt überraschend. In der Vergangenheit hatte die Kanzlerin selten so eng auf ein Vorhaben gesetzt, dessen politische Risiken derzeit niemand einschätzen kann. Seit Wochen demonstrieren regelmäßig Tausende gegen die Umbaupläne im Stadtzentrum. Die schwarz-gelbe Landesregierung in Stuttgart hat als Reaktion auf den Konflikt laut Umfragen derzeit keine Mehrheit mehr. Zuletzt ermittelten Meinungsforscher für SPD und Grüne insgesamt 48 Prozent - CDU und FDP kommen zusammen nur auf 40 Prozent. Bemerkenswert ist dabei, dass die Grünen derzeit mit 27 Prozent deutlich vor der SPD liegen, die 21 Prozent erhalten würde. Trotz dieser Ausgangslage gab die Kanzlerin der baden-württembergischen Landesregierung ungewöhnlich eindeutig volle politische Rückendeckung. Zugleich griff sie die Grünen und die SPD scharf an. Beiden Parteien warf sie vor, sie hätten sich bislang stets für Schienenprojekte eingesetzt. Jetzt aber, wo es Proteste gebe, wichen sie zurück. "Diese Art von Standhaftigkeit ist es genau nicht, die Deutschland voranbringt." Merkel verbindet wie der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus mit diesem Konflikt offenbar auch die Frage, ob in Deutschland derlei Großprojekte überhaupt noch umgesetzt werden können, sollten diese noch in Frage gestellt werden, obwohl bereits alle demokratischen und juristischen Instanzen durchlaufen sind. Die Grünen begrüßten Merkels klares Eintreten für das Projekt, weil sie darin eine große Chance sehen, bei den Landtagswahlen am 27. März 2011 zu gewinnen. Die Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, sagte der Leipziger Volkszeitung, diese Wahl könne sich bis hin zur "Existenz der Bundesregierung" auswirken.
(Stefan Braun 15.09.10)
Dann mal los! Ich freue mich schon auf die nächste Bundestagsdebatte.
Gut, daß es Phoenix gibt.
Einige Auszüge von heute:
Zuletzt urteilte der FDP-Gesundheitsminister Rösler “Eigentlich ist das keine Koalition, sondern eine schlagende Verbindung.“ „Wildsäue“ und „Gurkentruppe“: das sind ja Selbstbeschreibungen aus Ihren Reihen. Es fällt schwer, das alles als Oppositionsredner zu toppen – jedenfalls dann, wenn man eine mitteleuropäische Erziehung genossen hat. Wie konnte es passieren, dass eine Regierung so herunter gekommen ist? Der Grund für diese katastrophale Jahresbilanz ist nicht nur, dass sie handwerklich schlecht arbeiten. Der eigentliche Grund ist, dass Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und Ihrem Wunschpartner von Anfang an der Kompass, die Orientierung und der Wille zum Gemeinwohl fehlte. Das Wort „Gemeinwohl“ kommt deshalb in Ihrem Ehevertrag mit Herrn Westerwelle auch gar nicht vor. Warum auch, wo sie doch nur dann wirklich regieren, wenn Klientelinteressen bedient werden. Am Anfang haben wir Sie ja dafür kritisiert, dass Sie gar nicht regiert haben. Denn alle schwierigen Entscheidungen hatten Sie ja bis nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen verschoben. Monatelang haben Sie versucht, die Deutschen hinters Licht zu führen. Und als die Wahl in NRW vorbei war, wussten wir: es ist noch schlimmer, wenn Sie tatsächlich regieren.
[…] Denn es gibt einen Aufschwung und wir freuen uns darüber. Aber Sie werden sicher verstehen, warum wir es schon als Satire empfinden, dass ausgerechnet der Bundeswirtschaftsminister sich damit brüstet, dazu einen Beitrag geleistet zu haben. Sie, Herr Brüderle, haben doch am 4. Dezember 2008 gegen das Konjunkturpaket und am 28. 5. 2009 gegen die Verlängerung der Abwrackprämie gestimmt. Sie und Ihre FDP waren doch gegen fast alles, was diesen Aufschwung möglich gemacht hat. Herr Westerwelle hat das Konjunkturpaket damals an diesem Pult hier als „Schrott“ und „Flickschusterei“ verdammt. Herr Brüderle hat das Konjunkturpaket damals als „harte Droge“ abgelehnt. Und heute schwadroniert er vom „Aufschwung XL“, den er angeblich befördert habe! In Wahrheit, Herr Brüderle, sind Sie nur der größte Abstauber, den Deutschland seit langem gesehen hat. […] Wir erinnern uns noch gut, welche Reden der Außenminister hier im Deutschen Bundestag zur Finanzmarkt- und Währungskrise geschwungen hat. Z.B. am 7. Mai 2010: „Es weiß jeder, dass wir diesen Spekulationen Einhalt gebieten müssen. Wir müssen doch erkennen, dass wir – auch für unser Land – eine Aufgabe zu erfüllen haben.“ Wohl wahr, Herr Westerwelle. Aber warum hören wir eigentlich nichts zu diesen Initiativen, die Sie da ergreifen wollten? Was haben Sie nun eigentlich nach fast einem Jahr im Amt wirklich vorzuweisen? Ihr Kabinettskollege Norbert Röttgen hat im „Stern“ über Sie gesagt, Sie seien „irreparabel beschädigt“. Das war sicher nicht nett von Herrn Röttgen, aber es ist ja wahr. Seit Sie Ihre Partei schneidig an die Wand gefahren haben, ist von Ihnen nicht mehr viel zu hören. Sie haben als Außenminister im ersten Amtsjahr keinen einzigen wahrnehmbaren Impuls gesetzt. Deutschland hat sich unter Ihrer Führung als Akteur von der internationalen Bühne abgemeldet. Sogar die Diplomaten im Auswärtigen Amt sind verzweifelt. Wir nutzen unsere Möglichkeiten nicht, wir verlieren an Gewicht in der Welt, wir verspielen Ansehen, jeden Tag. Sie, Herr Westerwelle, haben viel dazu beigetragen, dass Deutschland weit unter Wert und unter seiner internationalen Bedeutung regiert wird.
[…] Ich weiß ja aus meiner Zeit als Umweltminister: Herr Ramsauer ist wahrer Filigrantechniker der Energieeffizienz. Und ehrlich gesagt: ich finde die Tatsache, dass jetzt Herr Röttgen und Herr Schäuble mit ihm klar kommen müssen, einen wirklich gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich. Da schustern Sie vier großen Konzernen 100 Milliarden Euro zu. Sagen Sie mal Herr Brüderle, Sie gerieren sich doch so gerne als Wettbewerbsfreund und als Mittelständler. Sie predigen Wettbewerb – in Wahrheit bedienen die Oligopole. Größeren Schaden für den Wettbewerb auf dem Energiemarkt konnten Sie gar nicht anrichten als mit diesem Geschenk. Ich will mit Ihnen gar nicht über den ökologischen Sinn oder Unsinn der Atomenergie streiten. Und auch nicht über die wirklich widersinnige Politik gegen einen der wichtigsten Leitmärkte, den Deutschland entwickelt hat: die erneuerbaren Energien mit inzwischen 300.000 neuen Jobs. Die mögliche Verdoppelung auf 600.000 bis zum Jahr 2020 haben Sie eben gerade gründlich ausgebremst. Denn wenn Sie wirklich glauben, diesen vier Konzernen die Förderung der Unternehmen der Erneuerbaren Energien anvertrauen zu können– einer zutiefst mittelständischen Branche – dann glauben Sie vermutlich auch, dass man Gänse von Weihnachten überzeugen kann. Hier hat sich nur ein Interesse durchgesetzt: mit alten abgeschriebenen Atomkraftwerken pro Tag eine Million Euro zu verdienen. Sie haben mal wieder einer Wirtschaftslobby nachgegeben. Mehr nicht.
(Gabriel)
Die Frage muss erlaubt sein, wer in diesem Lande eigentlich regiert. Das schlimmste Beispiel ist die Vereinbarung zur Energiepolitik. Sie haben, nachdem 40 Unsympathen übrigens alle Männer per Anzeige eine Laufzeitverlängerung gefordert haben, umgehend Gehorsam gezeigt und Vollzug gemeldet. Sie haben die Laufzeiten mehr verlängert, als die Industrie selbst in den Verhandlungen zum Konsens verlangt hat. Sie verdoppeln die Reststrommenge. Sie erhöhen die Menge des Atommülls. Wenn Sie in dieser Situation hier sagen, dass Sie Verantwortung in der Endlagerfrage übernehmen wollen, dann frage ich erstens: Was ist das für eine Verantwortung, die das Problem vergrößert und nicht verkleinert? Das Zweite ist ganz persönlich: Ich war in der schlimmen Situation, Ihr Erbe aus Morsleben übernehmen zu müssen. Ich habe an den Salzhöhlen gestanden, die von oben über den verrotteten Fässern herunterbröckelten; das haben Sie zu verantworten. Da wollte die Umweltministerin Merkel Atommüll aus Westdeutschland einlagern. Wir mussten das nicht nur stoppen, sondern auch aufwendig mit viel Geld sanieren. Wenn Sie sagen, dass Sie Verantwortung übernehmen wollen, und in dem Zusammenhang auf Gorleben verweisen, dann sage ich Ihnen: Wenn Ihre Morsleben-Politik die Perspektive für Gorleben ist, dann übernehmen Sie keine Verantwortung. Dann empfindet die Mehrheit der Bevölkerung dieses Landes dies als eine massive Bedrohung ihrer Sicherheit. Ausweislich Ihrer eigenen Gutachten wollen Sie den Ausbau erneuerbarer Energien jedes Jahr um 20 Prozent reduzieren; das haben Sie selber aufschreiben lassen. Sie machen mit Ihrer Laufzeitverlängerung Deutschland von Stromimporten abhängig. Bis zu 31 Prozent des Stroms sollen nach Ihren Energieszenarien künftig importiert werden. Was hat das mit Energiesicherheit zu tun? Was hat das mit Brückentechnologie zu tun? Das ist das Geschäftsmodell von RWE, das Sie uns hier verkaufen. Wenn Sie das mit der Brückentechnologie ernst meinten, dann müssten Sie angesichts der gewaltigen Exportüberschüsse, die wir mittlerweile dank der erneuerbaren Energien in diesem Land erzielen, schneller aus der Atomenergie aussteigen. Wenn man die Frage ernsthaft stellt, wessen Regierung Sie sind, dann lautet die Antwort: Sie, Frau Merkel, sind die Kanzlerin von RWE, Eon, EnBW und Vattenfall. Die Richtlinien der Energiepolitik werden von Jürgen Großmann von RWE geschrieben, nicht mehr von einem gewählten Kabinett. Diese Unternehmen profitieren mit 100 Milliarden Euro. Dennoch behaupten Sie, die 14 Milliarden Euro, die für Energieeffizienz davon abgezweigt werden, würden das ausgleichen. Nein, das ist etwas mehr als das, was Sie den Stadtwerken in diesem Land wegnehmen. Sie reduzieren den Wettbewerb. Sie sorgen für höhere Preise. Das ist Ihre Energiepolitik. Das Schlimmste aber ist: Sie haben Sicherheit gegen Geld verdealt, übrigens unter Ausschluss des Herrn Umweltministers. Er durfte nicht mit am Tisch sitzen, wie wir heute Morgen erfahren haben. Der Umweltminister kommt auch in einem anderen Bereich zu einem interessanten Ergebnis. Er hat ein Gutachten zur Frage der Zustimmungspflichtigkeit in Auftrag gegeben, ein Gutachten, das er Herrn Papier, den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, schreiben ließ. Herr Papier kommt zu dem Ergebnis, zu dem fast alle Verfassungsrechtler kommen: Laufzeitverlängerungen sind zustimmungspflichtig. Der gleiche Herr Röttgen wird uns aber hier ein Gesetz vorlegen, das ohne Zustimmung des Bundesrates verabschiedet werden kann; das hat er angekündigt. Lieber Herr Röttgen, man kann sich irren, aber vorsätzlich ein verfassungswidriges Gesetz einzubringen, gehört sich nicht für einen Minister.
(Trittin 15.09.10)
Ich darf daran erinnern, dass wir innerhalb einer einzigen Woche über 480 Milliarden Euro entschieden haben. Dagegen sind für die Beratung des Bundeshaushalts, der 320 Milliarden Euro umfasst, mehrere Monate nötig. Das ist aber noch nicht einmal das Problem. Das Problem ist: Sie haben festgelegt, dass eine Handvoll Leute, die alle nicht im Bundestag sitzen, über die Verwendung des Geldes entscheiden. Es gibt einen Ausschuss des Bundestages, der geheim tagt. Er darf aber nichts entscheiden, sondern nur Fragen stellen. Die Antworten, die er bekommt, darf er uns noch nicht einmal mitteilen. Das ist eine Entmachtung des Bundestages, die der Bundestag selbst beschlossen hat. Genau das ist grundgesetzwidrig.
Frau Kanzlerin, heute sprechen Sie doch allen Ernstes von der Bankenabgabe. Ich bitte Sie! Sie wollen nur gut 1 Milliarde Euro haben. Außerdem ist das Konzept völlig falsch angelegt, weil die Sparkassen mit einbezahlen sollen. Sie haben aber nichts mit dieser Krise zu tun, und deshalb sind sie diesbezüglich auch nicht zahlungspflichtig. Das Geld in Höhe von 1 Milliarde Euro soll ja nicht zum Schuldenabbau genutzt werden, sondern es soll in einen Fonds gesteckt werden, damit bei der nächsten Krise darauf zugegriffen werden kann. Sie wissen nämlich, dass Sie nichts unternommen haben, damit es keine nächste Krise gibt. Angesichts von 480 Milliarden Euro brauchen wir etwa 480 Jahre, bis wir das Geld zusammenhaben. Das ist wirklich eine sehr langfristige Politik.
(Gregor Gysi 15.09.10)
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2 Kommentare:
Habe da gerade bei Fefe ein Foto entdeckt, das Dir gefallen könnte:
http://i.imgur.com/XCJoe.jpg
Stammt vom Papstbesuch in England.
Der Nordstern.
Danke Nordstern - das ist wirklich sehr, sehr schön!
LGT
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