Mittwoch, 12. Januar 2011
Instrumentarium.
Man weiß nicht so genau, nach welchen Kriterien der liebe Gott die Karten des Lebens verteilt.
Aber eins ist sicher - von Gerechtigkeit hält er gar nichts.
Das fängt schon damit an WO man geboren wird.
Nicht besonders einfach dürfte das Leben ausfallen, wenn man zufälligerweise in Gaza, Tschetschenien oder Haiti aus dem Uterus schlüpft.
Ist der erste Blick, den man von seinem Leben erhascht stattdessen eine schön sterile OP-Lampe in Nordeuropa, kann man mit ziemlicher Sicherheit schon mal Hunger, Krieg und Erdbeben ausschließen für die nächsten Jahre.
In Deutschland geboren worden zu sein, hat durchaus Vorteile gegenüber vielen anderen Geburtsorten der Welt.
Diejenigen, die auf teutonischer Erde die ersten Schritte des Lebens zu tun, sind aber noch lange nicht qua Geburt mit gleichen Chancen ausgestattet.
Keineswegs. Die Zukunft sieht natürlich erheblich rosiger aus, wenn einem im Licht des Kreißsaals noch ein fränkischer Adelstitel, ein Familienschloss und ein 400-Millionen-Euroschreck im Hintern stecken.
Findet man als elterliche Mitgift hingegen Marzahn, Hartz-IV und Leberzirrhose vor, wird es vermutlich eher nichts mit dem sorgenfreien Leben.
Und auch das ist noch Gold gegen manch andere Startchance, die sich der liebe Gott in seinem grenzenlosen Sadismus ausgedacht hat.
Viele Kinder werden auch mit inoperablen Herzfehlern, Mukoviszidose und anderen tödlichen Erbkrankheiten ausgestattet ins Leben entlassen.
In Deutschland sind schätzungsweise 22.000 Kinder und Jugendliche von einer lebensverkürzenden Erkrankung betroffen. Jährlich sterben mehr als 3.000 Kinder, davon ca. 520 aufgrund einer Krebserkrankung. Neben Unfällen und dem plötzlichen Kindstod im Säuglingsalter sind angeborene Störungen (kardiovaskuläre, neuromuskuläre und genetische Krankheiten) und Krebserkrankungen die häufigsten Todesursachen bei Kindern.
(kinderaerzte-im-netz.de)
Sich ungerecht behandelt zu fühlen, ist üblicherweise eine enorme Triebfeder für Zornesausbrüche.
Insbesondere wenn sich Ungerechtigkeit mit Hilflosigkeit paart, fällt es der menschlichen Psyche schwer gelassen zu bleiben.
So erinnere ich mich noch heute an eine höchst unangenehme Situation, die ich als Zehnjähriger während eines Französisch-Tests in der Schule erlebte.
Plötzlich riß mir der Lehrer das Blatt aus der Hand, warf mich hinaus und brüllte mir hinterher, ich hätte „abgeguckt“. Erhärtet wurde sein Verdacht durch die Tatsache, daß ich offenbar fast keine Fehler gemacht hatte.
Ich hatte aber NICHT abgeguckt, sondern (ausnahmsweise) am Abend vorher gelernt.
Der Ausgang dieses Tests (Note 6) ist für mein restliches Leben herzlich irrelevant, aber dieses kindliche Gefühl der Ohnmacht und die Wut darüber ungerechtfertigt beschuldigt worden zu sein, ist mir noch nach Dekaden präsent.
Wie kommt es also, daß bei massenhafter und viel schwerwiegenderer Ungerechtigkeit Menschen ihr Schicksal stoisch hinnehmen?
Müßte sich nicht eigentlich ein Mob aus chancenlosen Marzahnern bilden, der sich gen Bayern aufmacht und den reichen Baron aus seinem Schloß treibt?
Ich will solchen Taten gar nicht das Wort reden - schließlich muß man kein Arsch sein, nur weil man mit einem goldenen Löffeln im Selbigen geboren wird.
Es verblüfft aber doch, daß ein Adeliger, der zudem noch einer der reichsten 400 Menschen in Deutschland ist und als Mitglied des schwarzgelben Kabinetts sämtliche Großschweinereien wie Hotelsteuersenkung, Milliardengeschenke an Atom- und Pharmaindustrie, sowie Beitragserhöhungen für alle, abgenickt hat, sich dafür auch noch im demoskopischen Olymp sonnen kann.
80% der von ihm Regierten finden ihn toll.
Offensichtlich ist der Respekt vor der Obrigkeit hierzulande immer noch stark ausgeprägt.
Der Pakt zwischen Adel und Klerus - „du hältst sie dumm; ich halt sie arm!“ - scheint langfristig zu wirken.
Das Christentum lehrt schließlich ganz eindeutig sich nicht aufzulehnen.
Mit dem Auftauchen Jesu und dem Neuen Testament, war die Richtschnur gefunden.
Gott will, daß Sklaven und Diener und Leibeigene und andere Rechtlose willig und ohne aufzumucken ihren Besitzern dienen - und wer sich Gott widersetzt, kommt in die Hölle.
Simple as that.
5 Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus. 6 Arbeitet nicht nur, um euch bei den Menschen einzuschmeicheln und ihnen zu gefallen, sondern erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes! 7 Dient freudig, als dientet ihr dem Herrn und nicht den Menschen. 8 Denn ihr wisst, dass jeder, der etwas Gutes tut, es vom Herrn zurückerhalten wird, ob er ein Sklave ist oder ein freier Mann. 9 Ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven! Droht ihnen nicht! Denn ihr wisst, dass ihr im Himmel einen gemeinsamen Herrn habt. Bei ihm gibt es kein Ansehen der Person.
(Brief an die Epheser, Kapitel 6)
Aufmüpfig war erst der extrem antisemitische christliche Gelehrte Martin Luther, der sich dermaßen mit seiner klerikalen Obrigkeit anlegte, daß es zum Schisma kam.
Die daraufhin anbrechenden Bauernaufstände gegen ihre Herren, schockierten den Kirchenmann allerdings.
Ja, er nahm sich das Recht gegen den Vatikan zu opponieren.
Daß aber völlig rechtlose Leibeigene auch anfingen gegen ihre weltlichen Herren zu rebellieren, stand auf einem ganz anderen Blatt und so lehrte insbesondere die protestantische Kirche unbedingten Gehorsam gegen jede Obrigkeit.
Die christliche Lehre funktioniert genau so: Alle Macht den Oberen und halte die Armen mit dem Argument ruhig, ihr Schicksal sei gottgewollt und die Erlösung käme dann im Jenseits.
Das Diesseits für die Herrscher, das Jenseits für die Beherrschten.
Diese besondere soziale Auffassung haben die Kirchen nie wirklich überwunden.
Sie unterwarfen sich willig einem Reichskanzler Hitler - schließlich sei er der „rechtmäßig gewählte Führer“ (ein Argument, das man auf Kreuznet lesen kann, wenn es darum geht, weshalb die Kirche nichts gegen die Nazis unternommen habe).
Aber auch nach dem WK-II und der UN-Menschenrechtscharta, blieben die Großkirchen fest an der Seite der Herrschenden - sei es beim faschistischem Mörder General Franco in Spanien, oder bei den verschiedenen südamerikanischen Diktatoren.
Es war der aktuelle Papst, der die sogenannten Befreiungstheologen, die sich mit den unterdrückten und hungernden Armen solidarisierten, hart und brutal abstrafte.
Extrem wenig Glauben an Gerechtigkeit auf Erden, dürften derzeit die Bewohner von Haiti aufbringen.
Entdeckt hatte die Insel Hispaniola niemand geringeres als Christoph Kolumbus, in dessen Gefolge Christliche Truppen die Bewohner; die Arawaks (auch Taínos genannt) fast komplett ausrotteten.
Einer der Genozide, für die das Christentum direkt verantwortlich ist!
Die Religion der Liebe eben.
Die völlig entvölkerte Insel wurde dann im späten 17. Jahrhundert von den Christen aus Europa wieder besiedelt.
Nicht von ihnen selbst, aber sie schleppten Sklaven aus Afrika an, die sie vor den Toren Amerikas „züchteten“.
Allerdings entglitt den Christlichen Herren später die Kontrolle - die afrikanischen Sklaven taten das, was ihnen Gott verboten hatte: Sie rebellierten und verjagten ab 1791 ihre weißen Herren.
Das hat Gott aber gar nicht gefallen und so überzog er sie mit Unglücken aller Art.
Selbst Schuld - findet zum Beispiel der berühmte amerikanische Prediger Pat Robertson, der sich 1988 um die republikanische Präsidentschaftskandidatur bemüht hatte:
"It may be a blessing in disguise. ... Something happened a long time ago in Haiti, and people might not want to talk about it. Haitians were originally under the heel of the French. You know, Napoleon the third, or whatever. And they got together and swore a pact to the devil. They said, we will serve you if you will get us free from the French. True story. And so, the devil said, okay it's a deal. Ever since they have been cursed by one thing after the other."
(Das Erdbeben sei die Folge eines haitianischen «Pakts mit dem Teufel». Vor langer Zeit habe sich etwas in Haiti zugetragen, worüber die Menschen nicht sprechen wollten, sagte Robertson im Fernsehen. Die Haitianer seien «unter der Knute Napoleons III.» gewesen, «und sie haben sich zusammengetan und einen Pakt mit dem Teufel geschmiedet und ihm gesagt, wir werden dir dienen, wenn du uns von den Franzosen befreist». Es handle sich dabei, so der Prediger weiter, um «eine wahre Geschichte», und der Teufel – Gottseibeiuns – habe den Deal angenommen.)
–Pat Robertson am 13.01.10 zum Erdbeben auf Haiti.
Drei Millionen Haitianer verließen in der letzten Dekade das ärmste Land der Welt.
Obwohl der Inselstaat gerade einmal knapp so groß wie NRW ist, hat er an Naturkatastrophen wie Erdbeben und Hurrikans mehr zu bieten als ganz Europa.
Hinzu kommen politische Beben aller Art, die dazu führten, daß an die 70% der zehn Millionen Haitianer arbeitslos sind und 50% zeitweilig hungern.
Nach dem großen Beben vor genau einem Jahr, das 250.000 Tote forderte, kamen jede Menge Seuchen und Krankheiten hinzu.
Der liebe Gott hat damit aber immer noch nicht genug und so gibt es Meldungen über dramatische Ausbrüche der Brutalität. Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung, wie ein Grusel-Studie von AI belegt.
Allein für die ersten 150 Tage nach dem Beben am 12. Januar 2010 seien in den Zeltstädten in der Hauptstadt Port-au-Prince und im Süden des Landes mehr als 250 Vergewaltigungen registriert worden, erklärte die Menschenrechtsorganisation am Donnerstag in London anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Studie. Nahezu täglich wendeten sich Frauen wegen sexueller Misshandlungen bei Opferschutzstellen, meist nach nächtlichen Übergriffen bewaffneter Männer, erklärte die Organisation. "Frauen, die nach dem Erdbeben bereits mit dem Verlust ihrer Liebsten, ihres Zuhauses und ihrer Existenzgrundlage zurechtkommen müssen, fühlen sich nun zusätzlich von der Gefahr sexueller Übergriffe bedroht", erklärte Wissenschaftler Gerardo Ducos. Für die Studie "Nachbeben: Frauen reden offen über sexuelle Gewalt in Haitis Lagern" führte Amnesty Gespräche mit 50 Opfern von Vergewaltigungen.
[…]"Haitis ohnehin schwaches Rechts- und Ordnungssystem" sei nach dem Beben "vollständig" zusammengebrochen, erklärte Ducos. Zudem seien die Zeltstädte völlig überfüllt und kaum zu überblicken. Dies mache es den Vergewaltigern leicht, sich dort ihre Opfer zu suchen. Hinzu komme die Tatsache, dass sie in der Regel keinerlei Strafen zu befürchten hätten.
(Spon 06.01.11)
4 von 5 Haitianern sind übrigens katholisch.
Aber was soll man schon von einem katholischen Gott halten, der bei dem Beben vor einem Jahr auch den Erzbischof Joseph Serge Miot von Port-au-Prince hinwegraffte?
Ratzi ist ohnehin nicht von der schnellen Truppe - erst nachdem das Land komplett in Agonie und Chaos versunken ist, schickt er heute Nachschub.
Auf den Tag genau ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben hat Papst Benedikt XVI. zwei neue Bischöfe für Haiti ernannt. Neuer Erzbischof von Port-au-Prince ist Guire Pulard, bislang Bischof von Les Cayes. Gleichzeitig ernannte der Papst Glandas Marie Erick Touissant zum Weihbischof für Port-au-Prince.
(Radio Vatikan 12.01.11)
Was aber, wenn sich die Verzweiflung und die Aussichtlosigkeit soweit ausgebreitet haben, daß die Wut der Haitianer nicht mehr kontrollierbar ist?
Was wenn sie in die Dominikanische Republik flüchten, was wenn sie internationale Einrichtungen ausrauben, was wenn sie sich womöglich nach Florida aufmachen?
Um das zu verhindern rücken schon geraume Zeit die US-amerikanischen ultrakonservativen Evangelikalen in Haiti an und prügeln ihre Auffassung des Christentums ein.
Daß sie mit Hilfsgütern und Lebensmitteln kommen, nutzen sie aus, um die verelendende Bevölkerung zum evangelikalen Glauben zu zwingen.
"Kreuzzug der Evangelisierung", steht auf Plakaten und Ausweisen, "Croisade" auf Französisch und "Kwazad" auf Kreolisch. Veranstalter sind Franklin Graham und seine Hilfsorganisation "Samaritan's Purse", die vor den Toren mit Millionenspenden Auffanglager versorgt.
[…] Grahams Vater Billy führte jahrzehntelang Kreuzzüge bis in die Dortmunder Westfalenhalle, die Familie Bush gehört zu seinen Freunden. Sohn Franklin brachte kürzlich Sarah Palin mit ins Trümmerfeld, den Islam nannte er einmal "böse und teuflisch".
[…] Längst ist diese Glaubensschlacht gefährlich geworden. Mehr als 50 Voodoo-Priester wurden seit Dezember in Jérémie im Südwesten gelyncht, erschlagen und zerhackt mit Knüppeln und Macheten. Irgendjemand hatte das Gerücht gestreut, sie würden mit einem Zauberpulver diese seltsame Krankheit auslösen. Die Cholera, fast 4000 Haitianer sind der Epidemie erlegen.
[…] Für andere ist der Notfall Haiti eine Eroberung im Namen des Herrn und der eigenen Bilanz. Haitianer sind für fast jeden Glauben empfänglich, Gott und Jesus werden auf jedem zweiten Bus gelobt, was soll in diesem Wahnsinn sonst Halt geben? [Max] Beauvoir, [pensionierter Biochemiker in Port-au-Prince] hat lange in den USA gearbeitet und schätzt manches an dem Land. Doch nun fallen ihm einige US-Missionen besonders unangenehm auf.
[…] "Es gibt viele Sünden in Haiti, Voodoo ist die größte", sagt Luckner Phicilien, Anfang zwanzig. "Gott toleriert keine Sünden", sagt Franklin Graham an der Kanzel, "eine Sünde bricht Gottes Gesetz, er wird euch richten. Ihr seid alle schuldig." Er spricht zu Menschen, von denen viele ihre Mütter verloren haben, ihre Väter, Kinder, Geschwister, ihr Haus sowieso. Frauen werden in Camps vergewaltigt, trotz Aids. "Gott weiß, was es heißt, einen Sohn zu verlieren, er hat euch seinen Sohn am Kreuz gegeben", sagt Graham, Gnade naht. "Kommt nach vorne, Leute. Kommt zu Gott, er vergibt eure Sünden und schenkt das ewige Leben. Das ist ein heiliger Moment, ihr kommt nicht zu Pastor Graham, ihr kommt zu Gott. Denn Gott ist in Port-au-Prince, in diesem Stadion." Dann ist die Predigt vorbei, Broschüren werden verteilt. Die weißen Amerikaner steigen in Busse, die schwarzen Haitianer gehen zurück in die Flüchtlingslager.
(SZ 12.01.11)
Aber eins ist sicher - von Gerechtigkeit hält er gar nichts.
Das fängt schon damit an WO man geboren wird.
Nicht besonders einfach dürfte das Leben ausfallen, wenn man zufälligerweise in Gaza, Tschetschenien oder Haiti aus dem Uterus schlüpft.
Ist der erste Blick, den man von seinem Leben erhascht stattdessen eine schön sterile OP-Lampe in Nordeuropa, kann man mit ziemlicher Sicherheit schon mal Hunger, Krieg und Erdbeben ausschließen für die nächsten Jahre.
In Deutschland geboren worden zu sein, hat durchaus Vorteile gegenüber vielen anderen Geburtsorten der Welt.
Diejenigen, die auf teutonischer Erde die ersten Schritte des Lebens zu tun, sind aber noch lange nicht qua Geburt mit gleichen Chancen ausgestattet.
Keineswegs. Die Zukunft sieht natürlich erheblich rosiger aus, wenn einem im Licht des Kreißsaals noch ein fränkischer Adelstitel, ein Familienschloss und ein 400-Millionen-Euroschreck im Hintern stecken.
Findet man als elterliche Mitgift hingegen Marzahn, Hartz-IV und Leberzirrhose vor, wird es vermutlich eher nichts mit dem sorgenfreien Leben.
Und auch das ist noch Gold gegen manch andere Startchance, die sich der liebe Gott in seinem grenzenlosen Sadismus ausgedacht hat.
Viele Kinder werden auch mit inoperablen Herzfehlern, Mukoviszidose und anderen tödlichen Erbkrankheiten ausgestattet ins Leben entlassen.
In Deutschland sind schätzungsweise 22.000 Kinder und Jugendliche von einer lebensverkürzenden Erkrankung betroffen. Jährlich sterben mehr als 3.000 Kinder, davon ca. 520 aufgrund einer Krebserkrankung. Neben Unfällen und dem plötzlichen Kindstod im Säuglingsalter sind angeborene Störungen (kardiovaskuläre, neuromuskuläre und genetische Krankheiten) und Krebserkrankungen die häufigsten Todesursachen bei Kindern.
(kinderaerzte-im-netz.de)
Sich ungerecht behandelt zu fühlen, ist üblicherweise eine enorme Triebfeder für Zornesausbrüche.
Insbesondere wenn sich Ungerechtigkeit mit Hilflosigkeit paart, fällt es der menschlichen Psyche schwer gelassen zu bleiben.
So erinnere ich mich noch heute an eine höchst unangenehme Situation, die ich als Zehnjähriger während eines Französisch-Tests in der Schule erlebte.
Plötzlich riß mir der Lehrer das Blatt aus der Hand, warf mich hinaus und brüllte mir hinterher, ich hätte „abgeguckt“. Erhärtet wurde sein Verdacht durch die Tatsache, daß ich offenbar fast keine Fehler gemacht hatte.
Ich hatte aber NICHT abgeguckt, sondern (ausnahmsweise) am Abend vorher gelernt.
Der Ausgang dieses Tests (Note 6) ist für mein restliches Leben herzlich irrelevant, aber dieses kindliche Gefühl der Ohnmacht und die Wut darüber ungerechtfertigt beschuldigt worden zu sein, ist mir noch nach Dekaden präsent.
Wie kommt es also, daß bei massenhafter und viel schwerwiegenderer Ungerechtigkeit Menschen ihr Schicksal stoisch hinnehmen?
Müßte sich nicht eigentlich ein Mob aus chancenlosen Marzahnern bilden, der sich gen Bayern aufmacht und den reichen Baron aus seinem Schloß treibt?
Ich will solchen Taten gar nicht das Wort reden - schließlich muß man kein Arsch sein, nur weil man mit einem goldenen Löffeln im Selbigen geboren wird.
Es verblüfft aber doch, daß ein Adeliger, der zudem noch einer der reichsten 400 Menschen in Deutschland ist und als Mitglied des schwarzgelben Kabinetts sämtliche Großschweinereien wie Hotelsteuersenkung, Milliardengeschenke an Atom- und Pharmaindustrie, sowie Beitragserhöhungen für alle, abgenickt hat, sich dafür auch noch im demoskopischen Olymp sonnen kann.
80% der von ihm Regierten finden ihn toll.
Offensichtlich ist der Respekt vor der Obrigkeit hierzulande immer noch stark ausgeprägt.
Der Pakt zwischen Adel und Klerus - „du hältst sie dumm; ich halt sie arm!“ - scheint langfristig zu wirken.
Das Christentum lehrt schließlich ganz eindeutig sich nicht aufzulehnen.
Mit dem Auftauchen Jesu und dem Neuen Testament, war die Richtschnur gefunden.
Gott will, daß Sklaven und Diener und Leibeigene und andere Rechtlose willig und ohne aufzumucken ihren Besitzern dienen - und wer sich Gott widersetzt, kommt in die Hölle.
Simple as that.
5 Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus. 6 Arbeitet nicht nur, um euch bei den Menschen einzuschmeicheln und ihnen zu gefallen, sondern erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes! 7 Dient freudig, als dientet ihr dem Herrn und nicht den Menschen. 8 Denn ihr wisst, dass jeder, der etwas Gutes tut, es vom Herrn zurückerhalten wird, ob er ein Sklave ist oder ein freier Mann. 9 Ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven! Droht ihnen nicht! Denn ihr wisst, dass ihr im Himmel einen gemeinsamen Herrn habt. Bei ihm gibt es kein Ansehen der Person.
(Brief an die Epheser, Kapitel 6)
Aufmüpfig war erst der extrem antisemitische christliche Gelehrte Martin Luther, der sich dermaßen mit seiner klerikalen Obrigkeit anlegte, daß es zum Schisma kam.
Die daraufhin anbrechenden Bauernaufstände gegen ihre Herren, schockierten den Kirchenmann allerdings.
Ja, er nahm sich das Recht gegen den Vatikan zu opponieren.
Daß aber völlig rechtlose Leibeigene auch anfingen gegen ihre weltlichen Herren zu rebellieren, stand auf einem ganz anderen Blatt und so lehrte insbesondere die protestantische Kirche unbedingten Gehorsam gegen jede Obrigkeit.
Die christliche Lehre funktioniert genau so: Alle Macht den Oberen und halte die Armen mit dem Argument ruhig, ihr Schicksal sei gottgewollt und die Erlösung käme dann im Jenseits.
Das Diesseits für die Herrscher, das Jenseits für die Beherrschten.
Diese besondere soziale Auffassung haben die Kirchen nie wirklich überwunden.
Sie unterwarfen sich willig einem Reichskanzler Hitler - schließlich sei er der „rechtmäßig gewählte Führer“ (ein Argument, das man auf Kreuznet lesen kann, wenn es darum geht, weshalb die Kirche nichts gegen die Nazis unternommen habe).
Aber auch nach dem WK-II und der UN-Menschenrechtscharta, blieben die Großkirchen fest an der Seite der Herrschenden - sei es beim faschistischem Mörder General Franco in Spanien, oder bei den verschiedenen südamerikanischen Diktatoren.
Es war der aktuelle Papst, der die sogenannten Befreiungstheologen, die sich mit den unterdrückten und hungernden Armen solidarisierten, hart und brutal abstrafte.
Extrem wenig Glauben an Gerechtigkeit auf Erden, dürften derzeit die Bewohner von Haiti aufbringen.
Entdeckt hatte die Insel Hispaniola niemand geringeres als Christoph Kolumbus, in dessen Gefolge Christliche Truppen die Bewohner; die Arawaks (auch Taínos genannt) fast komplett ausrotteten.
Einer der Genozide, für die das Christentum direkt verantwortlich ist!
Die Religion der Liebe eben.
Die völlig entvölkerte Insel wurde dann im späten 17. Jahrhundert von den Christen aus Europa wieder besiedelt.
Nicht von ihnen selbst, aber sie schleppten Sklaven aus Afrika an, die sie vor den Toren Amerikas „züchteten“.
Allerdings entglitt den Christlichen Herren später die Kontrolle - die afrikanischen Sklaven taten das, was ihnen Gott verboten hatte: Sie rebellierten und verjagten ab 1791 ihre weißen Herren.
Das hat Gott aber gar nicht gefallen und so überzog er sie mit Unglücken aller Art.
Selbst Schuld - findet zum Beispiel der berühmte amerikanische Prediger Pat Robertson, der sich 1988 um die republikanische Präsidentschaftskandidatur bemüht hatte:
"It may be a blessing in disguise. ... Something happened a long time ago in Haiti, and people might not want to talk about it. Haitians were originally under the heel of the French. You know, Napoleon the third, or whatever. And they got together and swore a pact to the devil. They said, we will serve you if you will get us free from the French. True story. And so, the devil said, okay it's a deal. Ever since they have been cursed by one thing after the other."
(Das Erdbeben sei die Folge eines haitianischen «Pakts mit dem Teufel». Vor langer Zeit habe sich etwas in Haiti zugetragen, worüber die Menschen nicht sprechen wollten, sagte Robertson im Fernsehen. Die Haitianer seien «unter der Knute Napoleons III.» gewesen, «und sie haben sich zusammengetan und einen Pakt mit dem Teufel geschmiedet und ihm gesagt, wir werden dir dienen, wenn du uns von den Franzosen befreist». Es handle sich dabei, so der Prediger weiter, um «eine wahre Geschichte», und der Teufel – Gottseibeiuns – habe den Deal angenommen.)
–Pat Robertson am 13.01.10 zum Erdbeben auf Haiti.
Drei Millionen Haitianer verließen in der letzten Dekade das ärmste Land der Welt.
Obwohl der Inselstaat gerade einmal knapp so groß wie NRW ist, hat er an Naturkatastrophen wie Erdbeben und Hurrikans mehr zu bieten als ganz Europa.
Hinzu kommen politische Beben aller Art, die dazu führten, daß an die 70% der zehn Millionen Haitianer arbeitslos sind und 50% zeitweilig hungern.
Nach dem großen Beben vor genau einem Jahr, das 250.000 Tote forderte, kamen jede Menge Seuchen und Krankheiten hinzu.
Der liebe Gott hat damit aber immer noch nicht genug und so gibt es Meldungen über dramatische Ausbrüche der Brutalität. Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung, wie ein Grusel-Studie von AI belegt.
Allein für die ersten 150 Tage nach dem Beben am 12. Januar 2010 seien in den Zeltstädten in der Hauptstadt Port-au-Prince und im Süden des Landes mehr als 250 Vergewaltigungen registriert worden, erklärte die Menschenrechtsorganisation am Donnerstag in London anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Studie. Nahezu täglich wendeten sich Frauen wegen sexueller Misshandlungen bei Opferschutzstellen, meist nach nächtlichen Übergriffen bewaffneter Männer, erklärte die Organisation. "Frauen, die nach dem Erdbeben bereits mit dem Verlust ihrer Liebsten, ihres Zuhauses und ihrer Existenzgrundlage zurechtkommen müssen, fühlen sich nun zusätzlich von der Gefahr sexueller Übergriffe bedroht", erklärte Wissenschaftler Gerardo Ducos. Für die Studie "Nachbeben: Frauen reden offen über sexuelle Gewalt in Haitis Lagern" führte Amnesty Gespräche mit 50 Opfern von Vergewaltigungen.
[…]"Haitis ohnehin schwaches Rechts- und Ordnungssystem" sei nach dem Beben "vollständig" zusammengebrochen, erklärte Ducos. Zudem seien die Zeltstädte völlig überfüllt und kaum zu überblicken. Dies mache es den Vergewaltigern leicht, sich dort ihre Opfer zu suchen. Hinzu komme die Tatsache, dass sie in der Regel keinerlei Strafen zu befürchten hätten.
(Spon 06.01.11)
4 von 5 Haitianern sind übrigens katholisch.
Aber was soll man schon von einem katholischen Gott halten, der bei dem Beben vor einem Jahr auch den Erzbischof Joseph Serge Miot von Port-au-Prince hinwegraffte?
Ratzi ist ohnehin nicht von der schnellen Truppe - erst nachdem das Land komplett in Agonie und Chaos versunken ist, schickt er heute Nachschub.
Auf den Tag genau ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben hat Papst Benedikt XVI. zwei neue Bischöfe für Haiti ernannt. Neuer Erzbischof von Port-au-Prince ist Guire Pulard, bislang Bischof von Les Cayes. Gleichzeitig ernannte der Papst Glandas Marie Erick Touissant zum Weihbischof für Port-au-Prince.
(Radio Vatikan 12.01.11)
Was aber, wenn sich die Verzweiflung und die Aussichtlosigkeit soweit ausgebreitet haben, daß die Wut der Haitianer nicht mehr kontrollierbar ist?
Was wenn sie in die Dominikanische Republik flüchten, was wenn sie internationale Einrichtungen ausrauben, was wenn sie sich womöglich nach Florida aufmachen?
Um das zu verhindern rücken schon geraume Zeit die US-amerikanischen ultrakonservativen Evangelikalen in Haiti an und prügeln ihre Auffassung des Christentums ein.
Daß sie mit Hilfsgütern und Lebensmitteln kommen, nutzen sie aus, um die verelendende Bevölkerung zum evangelikalen Glauben zu zwingen.
"Kreuzzug der Evangelisierung", steht auf Plakaten und Ausweisen, "Croisade" auf Französisch und "Kwazad" auf Kreolisch. Veranstalter sind Franklin Graham und seine Hilfsorganisation "Samaritan's Purse", die vor den Toren mit Millionenspenden Auffanglager versorgt.
[…] Grahams Vater Billy führte jahrzehntelang Kreuzzüge bis in die Dortmunder Westfalenhalle, die Familie Bush gehört zu seinen Freunden. Sohn Franklin brachte kürzlich Sarah Palin mit ins Trümmerfeld, den Islam nannte er einmal "böse und teuflisch".
[…] Längst ist diese Glaubensschlacht gefährlich geworden. Mehr als 50 Voodoo-Priester wurden seit Dezember in Jérémie im Südwesten gelyncht, erschlagen und zerhackt mit Knüppeln und Macheten. Irgendjemand hatte das Gerücht gestreut, sie würden mit einem Zauberpulver diese seltsame Krankheit auslösen. Die Cholera, fast 4000 Haitianer sind der Epidemie erlegen.
[…] Für andere ist der Notfall Haiti eine Eroberung im Namen des Herrn und der eigenen Bilanz. Haitianer sind für fast jeden Glauben empfänglich, Gott und Jesus werden auf jedem zweiten Bus gelobt, was soll in diesem Wahnsinn sonst Halt geben? [Max] Beauvoir, [pensionierter Biochemiker in Port-au-Prince] hat lange in den USA gearbeitet und schätzt manches an dem Land. Doch nun fallen ihm einige US-Missionen besonders unangenehm auf.
[…] "Es gibt viele Sünden in Haiti, Voodoo ist die größte", sagt Luckner Phicilien, Anfang zwanzig. "Gott toleriert keine Sünden", sagt Franklin Graham an der Kanzel, "eine Sünde bricht Gottes Gesetz, er wird euch richten. Ihr seid alle schuldig." Er spricht zu Menschen, von denen viele ihre Mütter verloren haben, ihre Väter, Kinder, Geschwister, ihr Haus sowieso. Frauen werden in Camps vergewaltigt, trotz Aids. "Gott weiß, was es heißt, einen Sohn zu verlieren, er hat euch seinen Sohn am Kreuz gegeben", sagt Graham, Gnade naht. "Kommt nach vorne, Leute. Kommt zu Gott, er vergibt eure Sünden und schenkt das ewige Leben. Das ist ein heiliger Moment, ihr kommt nicht zu Pastor Graham, ihr kommt zu Gott. Denn Gott ist in Port-au-Prince, in diesem Stadion." Dann ist die Predigt vorbei, Broschüren werden verteilt. Die weißen Amerikaner steigen in Busse, die schwarzen Haitianer gehen zurück in die Flüchtlingslager.
(SZ 12.01.11)
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen