Mittwoch, 11. Mai 2011
Zimperliese Tammox
1. Vorwort:
Als ganz junger Erwachsener waren meine Gefahreninstinkte noch nicht richtig ausgebildet.
Vermutlich ist das ganz normal. Das Gehirn hat noch nicht genügend Schlimmes erlebt, um sich Risiken richtig zu vergegenwärtigen.
Ein bißchen wundere ich mich selbst noch, wenn ich daran denke, daß ich mit 18 Jahren einen 750er FIAT Panda mit 30 PS bekam und damit unbekümmert zwischen Hamburg und Berlin auf der Transitstrecke durch die DDR fuhr.
Mit Rückenwind und bergab brachte ich es bei durchgetretenem Gaspedal auf 130, manchmal gar 135 km/h und genoss es mal schneller als die Trabbis zu sein, die alle exakt 100 km/h fuhren.
Der Airbag war noch nicht erfunden; das Wort Knautschzone hatte ich im Zusammenhang mit Autos noch nicht gehört und daß man sich auch anschnallen könnte, kam mir gar nicht in den Sinn.
Ich erinnere mich lediglich, daß ich manchmal bei Regen oder Schnee kaum etwas sehen konnte, da mein einziger Scheibenwischer nur sehr langsam wischte und das Zuleitungskabel für das Wischwasser sowieso immer abgerissen war.
OK, das war ein bißchen lästig, aber hielt mich natürlich nicht davon ab mit Vollgas nachts durchs Schneegestöber zu sausen.
Heute habe ich ein Auto mit sechs Airbags, das dreimal so schwer und viermal so stark wie der Panda ist. Aber jetzt strengt es mich an Autobahn zu fahren Die Drängler im Rückspiegel verursachen Anspannung und bei jedem Motorradfahrer denke ich, „na gut, es muß eben auch Organspender geben!“
Die Autobahn mag jetzt zwar gut geteert und beleuchtet sein, aber ich fühle dennoch unsicherer als früher - weil ich inzwischen besser WEISS was alles passieren kann.
2. Vorwort:
Als ich das erste mal ganz allein wohnte, lernte ich die Staatsmacht kennen; es war 1987 und damit Volkszählung.
Die Datenschützer und mein politisches Netz waren im höchsten Maße alarmiert.
Obwohl Boykotteuren wie mir, die mit Antivolkszählungsbroschüren bewaffnet umher liefen in Hamburg 10.000 DM Strafe angedroht wurden, kam mir gar nicht in den Sinn bei der Volkszählung mitzumachen.
10.000 DM waren natürlich damals eine utopische Summe für mich, aber die Konsequenz schreckte mich nicht im Geringsten, weil ich einfach davon überzeugt war, es wäre absolut falsch, was Helmut Kohl und Friedrich Zimmermann von mir wollten.
Das sahen alle meine Bekannten im Übrigen genauso.
Einen Knacks bekam meine damalige dynamische Grundeinstellung, als ich auf einmal feststellte, daß ich so ziemlich der letzte war, der sich tatsächlich konsequent nicht zählen ließ.
Die meisten anderen waren Boykott-Maulhelden, die dann, als es zum Schwur kam, doch lieber mitmachten. Sie sorgen sich dann doch alle.
Könnte man noch Lehrer werden, wenn man schon mal als Staatsfeind aufgefallen wäre, muß man Konsequenzen beim §5-Schein oder dem Zivildienst befürchten?
Ich sah mich schon fast allein im Schuldenturm die 10.000 DM abhungern, als die SPD-Regierung in Hamburg die Volkszählung für gescheitert erklärte. Es hatten doch zu viele verweigert. Mein Bundesland hatte zu viel anarchisches Potential. Und da es ohnehin keine Ergebnisse gab, wurden die angedrohten Geldstrafen auch nie verlangt.
Geblieben ist für mich aber die mulmige Erkenntnis, daß sich die Leute Sorgen machen und im Zweifelsfall dem Staat gegenüber kein Rückgrat zeigen. Ich war entschlossen mich nicht verbiegen zu lassen.
Ein Treppenwitz der Geschichte, daß ich es seit Jahren bin, der bei jeder Gelegenheit „den Staat“ verteidigt. Diesmal im Kampf gegen die neoliberale Ideologie.
Plötzlich ist der Staat das Feindbild der Bürgerlichen geworden, die gar nicht schnell genug kommunale Krankenhäuser, Energieversorger, Post, Telephon und Müllabfuhr privatisieren können.
Im Moment wird nun wieder eine Volkszählung durchgeführt, der Zensus 2011.
Für mich keine wirklich aufregende Sache, da ich schon seit Jahren vom Mikrozensus molestiert werde.
Schon das dritte Jahr in Folge werde ich darüber aufgeklärt, daß ich mich nicht verweigern darf und die Fragen wahrheitsgemäß beantworten muß.
Aber irgendwie hat „der Staat“ dabei ein logisches Problem; da die Daten doch angeblich anonymisiert ausgewertet werden.
Die Unterlagen habe ich mir immer zuschicken lassen und allein ausgefüllt. Dabei ist nicht auszumachen, ob ich „wahrheitsgemäß“ antworte und auch die vielen Fragen, die ich „aus Versehen“ überlesen und daher gar nicht beantwortet habe, blieben bisher unbeanstandet.
Wie sollte das auch gehen?
Die Antwortbögen habe ich direkt an das statistische Landesamt geschickt. Dort müßte man ja zugeben die Daten doch bestimmten Personen zuzuordnen können, wenn man mir für das Verweigern von Auskünften Strafen androhen würde.
Ich weiß natürlich, daß ich ein Dinosaurier bin.
Außer mir stört das Volksbefragen keinen Menschen mehr. Die Generation Facebook und Studi-VZ kann darüber nur lachen. Welche Fragen sollten schon jemanden tangieren, der vorher ganz freiwillig in sozialen Netzwerken vor den Augen der ganzen Welt seine Schuhgröße und Schwanzlänge in Bild und Ton ausposaunt hat?
Seit über eine Dekade sind wir es gewohnt, daß in Reality-TV-Formaten Brustimplantate, Smegmabildung und Pickel am Arsch coram publico diskutiert werden - was also würde man vor einem Innenminister Friedrich geheim halten?
Die Frage ist natürlich auch, ob es denn nicht ein berechtigtes Anliegen des Staates ist Daten über das Volk zu haben. Stichwort „Planungssicherheit“.
Es gibt Wissenschaftler, die sagen, daß man all diese Daten ohnehin viel besser aus anderen Quellen gewinnen könnte.
Falls das aber nicht so sein sollte, man weiterhin statistophil veranlagt ist und dem Staat neues Zahlenmaterial gönnte, so stellt sich allerdings die Frage, was all die religiösen Fragen sollen, wenn man in den vorgegebenen Antworten Konfessionslose, Humanisten. Atheisten und Agnostiker ausläßt?
Der Staat ist nämlich - WIEDER EINMAL - gehorsam vor den Kirchen gekrochen und hat die religiösen Fragen ganz in ihrem Sinne formuliert, so daß eine möglichst große Anzahl religiöser Menschen als Ergebnis herauskommen muß.
Dabei ist die berüchtigte Frage 7 der aktuellen Volkszählung, die obligatorisch ist und die der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar "bedenklich" nennt, ohnehin nur auf Druck der Kirchen und gegen den Willen der EU in unsere Befragungen gerutscht.
An Frage sieben sind nicht die Statistiker interessiert, sondern allein die Kirchen.
"Die Kirchen haben enormen Druck ausgeübt", sagt Helmut Eppmann, Vorstand des Statistikamts Nord. Da deren Register die notwendigen Daten nicht wiedergeben würden, hätten die Kirchen auf den Gesetzgeber eingewirkt und diesen überzeugt. Von Europa war die Frage nicht vorgegeben, weshalb diese im Entwurf zum Zensusgesetz nicht vorgesehen war. Eppmann und seine Kollegen haben es hingegen auf Daten wie Erwerbstätigkeit und Wohnsituation abgesehen.
Das Einfügen von Frage sieben kritisiert auch der Bundesbeauftragte für Datenschutz:
"Im parlamentarischen Beratungsprozess haben sich verschiedene Religionsgemeinschaften durchgesetzt. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat die Erhebung abgelehnt", sagte Sprecherin Juliane Heinrich. Auch wenn das Grundgesetz diese gestattet. Die Evangelische Kirche begrüßt, dass "ihre Bitte Gehör gefunden" hat, so Sprecher Reinhard Mawick.
(HHAbla 11.05.11)
Atheisten gibt es aber in der Welt das Statistiker nicht.
Das ist wieder einmal eine Variante des Deschner-Schmidt-Salomon-Paradoxons, die seit langer Zeit beklagen ihre Bücher wären in Buchhandlungen unter „Theologie“ oder „Religion“ geführt.
MSS hat persönlich den dazu entwickelten Fragenbogen der Bertelsmann-Stiftung beantwortet und erreichte die höchste Stufe der Religiosität.
Automatisch landet jemand wie ich beim Scoring der Versandhändler und in Statistiken in der Schublade der „Religiösen“, da ich mich in der Tat brennend für die Kirche und auch Religionen interessiere.
Mein Interesse hat aber selbstverständlich zur gegenteiligen Position geführt. Wer über die Kirche Bescheid weiß, kann gar nicht mehr religiös sein.
Der Haushalts-Fragebogen (siehe den grünen Musterbogen) gönnt dem Thema zwei Frageblöcke, die mit 7 und 8 überschrieben sind. In Frageblock 7 wird erfasst, ob man Mitglied einer Glaubensgemeinschaft ist. Wenn das so ist, darf man mit Block 9 weitermachen - man ist damit erfolgreich als gläubig erfasst.
Das mag dann zwar gelogen sein, nicht aber im Sinne des Gesetzes. Der Fragebogen erzwingt also quasi ein religiöses Bekenntnis von Leuten, die Glaube und Kirche fernstehen, weiter aber dafür Steuern zahlen. Zweifler oder gar Ungläubige, die aus Bequemlichkeit, Tradition oder sonstigen Gründen - etwa, weil sonst der Job flöten ginge - in der Kirche bleiben, gibt es offiziell in Deutschlands Kirchen nicht, das ist damit geklärt.
Was erfährt man auf diese Weise? Die Zahl der bereits über die Steuerregister erfassten Kirchensteuerzahler, und nicht viel mehr. Die werden statistisch in Gänze als "religiös" verbucht. Und nicht nur die. Anhänger des Druidentums, des Wicca-Hexenkults, begeisterte Esoteriker oder Satanisten haben ebenfalls kein Problem, ihr Kreuz zu setzen.
Sie gelangen von "keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft" im - immerhin freiwillig zu beantwortenden - Frageblock 8 problemlos zu "Sonstige Religion, Glaubensrichtung oder Weltanschauung". So fallen dann auch die Troll-Anhänger in die Gemeinschaft der Gläubigen.
(Frank Patalong 11.05.11)
Und wo bleiben die Tammoxe, die sehr genau die Kirchen beobachten, aber selbst 150%e Atheisten sind?
Sie fallen unter den Tisch.
Spannende Fragen über die gesellschaftlichen Entwicklungen in einem modernen, industrialisierten Staat, die der Zensus garantiert nicht beantworten wird - im Gegenteil: Er sieht das Bekenntnis zur Nicht-Religiosität gar nicht vor. Man könnte auch sagen, er verhindert es. Denn Atheisten stehen beim Zensus vor einem Dilemma: Entweder sie erklären sich fälschlich und gegen ihre Überzeugung zu Anhängern "sonstiger Religionen", oder aber sie behaupten, dass sie "keiner Weltanschauung" folgen. Beides ist auf jeden Fall falsch, wenn man Atheismus nicht als Defizit versteht. Atheisten "fehlt" nur aus Sicht der Religösen etwas. Der Zensus aber sieht keine Weltanschauungen nichtreligiöser Art vor. Im Ergebnis der Statistik dürfen wir also einen Anstieg der Zahl religiös orientierter Menschen erwarten. Beim Zensus kommt keine vertiefte Information zu diesem Thema heraus, sondern eine völlig verfälschte: Statistisch wird Deutschland so quasi zum Gottesstaat.
(Frank Patalong 11.05.11)
Die organisierten Interessen der Religioten haben sich wieder einmal gegen die Wahrheit durchgesetzt.
Kirchenlobbyisten, denen es gar nicht so lieb wäre zu erfahren, wie viele von uns sich als "gottlos" einstufen. Besonders heikel wäre das ja wohl geworden, wenn diese Zahl größer ist als die derjenigen, die sich vorher als "konfessionslos" geoutet hätten - womit endlich wissenschaftlich bewiesen wäre, daß auch viele Kirchenmitglieder tatsächlich mit Gott gar nichts mehr am Hut haben.
Meisner, Käßmann und Co können durchatmen - die Schmach hat ihnen der Kirchen-pampernde Staat erspart.
Als ganz junger Erwachsener waren meine Gefahreninstinkte noch nicht richtig ausgebildet.
Vermutlich ist das ganz normal. Das Gehirn hat noch nicht genügend Schlimmes erlebt, um sich Risiken richtig zu vergegenwärtigen.
Ein bißchen wundere ich mich selbst noch, wenn ich daran denke, daß ich mit 18 Jahren einen 750er FIAT Panda mit 30 PS bekam und damit unbekümmert zwischen Hamburg und Berlin auf der Transitstrecke durch die DDR fuhr.
Mit Rückenwind und bergab brachte ich es bei durchgetretenem Gaspedal auf 130, manchmal gar 135 km/h und genoss es mal schneller als die Trabbis zu sein, die alle exakt 100 km/h fuhren.
Der Airbag war noch nicht erfunden; das Wort Knautschzone hatte ich im Zusammenhang mit Autos noch nicht gehört und daß man sich auch anschnallen könnte, kam mir gar nicht in den Sinn.
Ich erinnere mich lediglich, daß ich manchmal bei Regen oder Schnee kaum etwas sehen konnte, da mein einziger Scheibenwischer nur sehr langsam wischte und das Zuleitungskabel für das Wischwasser sowieso immer abgerissen war.
OK, das war ein bißchen lästig, aber hielt mich natürlich nicht davon ab mit Vollgas nachts durchs Schneegestöber zu sausen.
Heute habe ich ein Auto mit sechs Airbags, das dreimal so schwer und viermal so stark wie der Panda ist. Aber jetzt strengt es mich an Autobahn zu fahren Die Drängler im Rückspiegel verursachen Anspannung und bei jedem Motorradfahrer denke ich, „na gut, es muß eben auch Organspender geben!“
Die Autobahn mag jetzt zwar gut geteert und beleuchtet sein, aber ich fühle dennoch unsicherer als früher - weil ich inzwischen besser WEISS was alles passieren kann.
2. Vorwort:
Als ich das erste mal ganz allein wohnte, lernte ich die Staatsmacht kennen; es war 1987 und damit Volkszählung.
Die Datenschützer und mein politisches Netz waren im höchsten Maße alarmiert.
Obwohl Boykotteuren wie mir, die mit Antivolkszählungsbroschüren bewaffnet umher liefen in Hamburg 10.000 DM Strafe angedroht wurden, kam mir gar nicht in den Sinn bei der Volkszählung mitzumachen.
10.000 DM waren natürlich damals eine utopische Summe für mich, aber die Konsequenz schreckte mich nicht im Geringsten, weil ich einfach davon überzeugt war, es wäre absolut falsch, was Helmut Kohl und Friedrich Zimmermann von mir wollten.
Das sahen alle meine Bekannten im Übrigen genauso.
Einen Knacks bekam meine damalige dynamische Grundeinstellung, als ich auf einmal feststellte, daß ich so ziemlich der letzte war, der sich tatsächlich konsequent nicht zählen ließ.
Die meisten anderen waren Boykott-Maulhelden, die dann, als es zum Schwur kam, doch lieber mitmachten. Sie sorgen sich dann doch alle.
Könnte man noch Lehrer werden, wenn man schon mal als Staatsfeind aufgefallen wäre, muß man Konsequenzen beim §5-Schein oder dem Zivildienst befürchten?
Ich sah mich schon fast allein im Schuldenturm die 10.000 DM abhungern, als die SPD-Regierung in Hamburg die Volkszählung für gescheitert erklärte. Es hatten doch zu viele verweigert. Mein Bundesland hatte zu viel anarchisches Potential. Und da es ohnehin keine Ergebnisse gab, wurden die angedrohten Geldstrafen auch nie verlangt.
Geblieben ist für mich aber die mulmige Erkenntnis, daß sich die Leute Sorgen machen und im Zweifelsfall dem Staat gegenüber kein Rückgrat zeigen. Ich war entschlossen mich nicht verbiegen zu lassen.
Ein Treppenwitz der Geschichte, daß ich es seit Jahren bin, der bei jeder Gelegenheit „den Staat“ verteidigt. Diesmal im Kampf gegen die neoliberale Ideologie.
Plötzlich ist der Staat das Feindbild der Bürgerlichen geworden, die gar nicht schnell genug kommunale Krankenhäuser, Energieversorger, Post, Telephon und Müllabfuhr privatisieren können.
Im Moment wird nun wieder eine Volkszählung durchgeführt, der Zensus 2011.
Für mich keine wirklich aufregende Sache, da ich schon seit Jahren vom Mikrozensus molestiert werde.
Schon das dritte Jahr in Folge werde ich darüber aufgeklärt, daß ich mich nicht verweigern darf und die Fragen wahrheitsgemäß beantworten muß.
Aber irgendwie hat „der Staat“ dabei ein logisches Problem; da die Daten doch angeblich anonymisiert ausgewertet werden.
Die Unterlagen habe ich mir immer zuschicken lassen und allein ausgefüllt. Dabei ist nicht auszumachen, ob ich „wahrheitsgemäß“ antworte und auch die vielen Fragen, die ich „aus Versehen“ überlesen und daher gar nicht beantwortet habe, blieben bisher unbeanstandet.
Wie sollte das auch gehen?
Die Antwortbögen habe ich direkt an das statistische Landesamt geschickt. Dort müßte man ja zugeben die Daten doch bestimmten Personen zuzuordnen können, wenn man mir für das Verweigern von Auskünften Strafen androhen würde.
Ich weiß natürlich, daß ich ein Dinosaurier bin.
Außer mir stört das Volksbefragen keinen Menschen mehr. Die Generation Facebook und Studi-VZ kann darüber nur lachen. Welche Fragen sollten schon jemanden tangieren, der vorher ganz freiwillig in sozialen Netzwerken vor den Augen der ganzen Welt seine Schuhgröße und Schwanzlänge in Bild und Ton ausposaunt hat?
Seit über eine Dekade sind wir es gewohnt, daß in Reality-TV-Formaten Brustimplantate, Smegmabildung und Pickel am Arsch coram publico diskutiert werden - was also würde man vor einem Innenminister Friedrich geheim halten?
Die Frage ist natürlich auch, ob es denn nicht ein berechtigtes Anliegen des Staates ist Daten über das Volk zu haben. Stichwort „Planungssicherheit“.
Es gibt Wissenschaftler, die sagen, daß man all diese Daten ohnehin viel besser aus anderen Quellen gewinnen könnte.
Falls das aber nicht so sein sollte, man weiterhin statistophil veranlagt ist und dem Staat neues Zahlenmaterial gönnte, so stellt sich allerdings die Frage, was all die religiösen Fragen sollen, wenn man in den vorgegebenen Antworten Konfessionslose, Humanisten. Atheisten und Agnostiker ausläßt?
Der Staat ist nämlich - WIEDER EINMAL - gehorsam vor den Kirchen gekrochen und hat die religiösen Fragen ganz in ihrem Sinne formuliert, so daß eine möglichst große Anzahl religiöser Menschen als Ergebnis herauskommen muß.
Dabei ist die berüchtigte Frage 7 der aktuellen Volkszählung, die obligatorisch ist und die der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar "bedenklich" nennt, ohnehin nur auf Druck der Kirchen und gegen den Willen der EU in unsere Befragungen gerutscht.
An Frage sieben sind nicht die Statistiker interessiert, sondern allein die Kirchen.
"Die Kirchen haben enormen Druck ausgeübt", sagt Helmut Eppmann, Vorstand des Statistikamts Nord. Da deren Register die notwendigen Daten nicht wiedergeben würden, hätten die Kirchen auf den Gesetzgeber eingewirkt und diesen überzeugt. Von Europa war die Frage nicht vorgegeben, weshalb diese im Entwurf zum Zensusgesetz nicht vorgesehen war. Eppmann und seine Kollegen haben es hingegen auf Daten wie Erwerbstätigkeit und Wohnsituation abgesehen.
Das Einfügen von Frage sieben kritisiert auch der Bundesbeauftragte für Datenschutz:
"Im parlamentarischen Beratungsprozess haben sich verschiedene Religionsgemeinschaften durchgesetzt. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat die Erhebung abgelehnt", sagte Sprecherin Juliane Heinrich. Auch wenn das Grundgesetz diese gestattet. Die Evangelische Kirche begrüßt, dass "ihre Bitte Gehör gefunden" hat, so Sprecher Reinhard Mawick.
(HHAbla 11.05.11)
Atheisten gibt es aber in der Welt das Statistiker nicht.
Das ist wieder einmal eine Variante des Deschner-Schmidt-Salomon-Paradoxons, die seit langer Zeit beklagen ihre Bücher wären in Buchhandlungen unter „Theologie“ oder „Religion“ geführt.
MSS hat persönlich den dazu entwickelten Fragenbogen der Bertelsmann-Stiftung beantwortet und erreichte die höchste Stufe der Religiosität.
Automatisch landet jemand wie ich beim Scoring der Versandhändler und in Statistiken in der Schublade der „Religiösen“, da ich mich in der Tat brennend für die Kirche und auch Religionen interessiere.
Mein Interesse hat aber selbstverständlich zur gegenteiligen Position geführt. Wer über die Kirche Bescheid weiß, kann gar nicht mehr religiös sein.
Der Haushalts-Fragebogen (siehe den grünen Musterbogen) gönnt dem Thema zwei Frageblöcke, die mit 7 und 8 überschrieben sind. In Frageblock 7 wird erfasst, ob man Mitglied einer Glaubensgemeinschaft ist. Wenn das so ist, darf man mit Block 9 weitermachen - man ist damit erfolgreich als gläubig erfasst.
Das mag dann zwar gelogen sein, nicht aber im Sinne des Gesetzes. Der Fragebogen erzwingt also quasi ein religiöses Bekenntnis von Leuten, die Glaube und Kirche fernstehen, weiter aber dafür Steuern zahlen. Zweifler oder gar Ungläubige, die aus Bequemlichkeit, Tradition oder sonstigen Gründen - etwa, weil sonst der Job flöten ginge - in der Kirche bleiben, gibt es offiziell in Deutschlands Kirchen nicht, das ist damit geklärt.
Was erfährt man auf diese Weise? Die Zahl der bereits über die Steuerregister erfassten Kirchensteuerzahler, und nicht viel mehr. Die werden statistisch in Gänze als "religiös" verbucht. Und nicht nur die. Anhänger des Druidentums, des Wicca-Hexenkults, begeisterte Esoteriker oder Satanisten haben ebenfalls kein Problem, ihr Kreuz zu setzen.
Sie gelangen von "keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft" im - immerhin freiwillig zu beantwortenden - Frageblock 8 problemlos zu "Sonstige Religion, Glaubensrichtung oder Weltanschauung". So fallen dann auch die Troll-Anhänger in die Gemeinschaft der Gläubigen.
(Frank Patalong 11.05.11)
Und wo bleiben die Tammoxe, die sehr genau die Kirchen beobachten, aber selbst 150%e Atheisten sind?
Sie fallen unter den Tisch.
Spannende Fragen über die gesellschaftlichen Entwicklungen in einem modernen, industrialisierten Staat, die der Zensus garantiert nicht beantworten wird - im Gegenteil: Er sieht das Bekenntnis zur Nicht-Religiosität gar nicht vor. Man könnte auch sagen, er verhindert es. Denn Atheisten stehen beim Zensus vor einem Dilemma: Entweder sie erklären sich fälschlich und gegen ihre Überzeugung zu Anhängern "sonstiger Religionen", oder aber sie behaupten, dass sie "keiner Weltanschauung" folgen. Beides ist auf jeden Fall falsch, wenn man Atheismus nicht als Defizit versteht. Atheisten "fehlt" nur aus Sicht der Religösen etwas. Der Zensus aber sieht keine Weltanschauungen nichtreligiöser Art vor. Im Ergebnis der Statistik dürfen wir also einen Anstieg der Zahl religiös orientierter Menschen erwarten. Beim Zensus kommt keine vertiefte Information zu diesem Thema heraus, sondern eine völlig verfälschte: Statistisch wird Deutschland so quasi zum Gottesstaat.
(Frank Patalong 11.05.11)
Die organisierten Interessen der Religioten haben sich wieder einmal gegen die Wahrheit durchgesetzt.
Kirchenlobbyisten, denen es gar nicht so lieb wäre zu erfahren, wie viele von uns sich als "gottlos" einstufen. Besonders heikel wäre das ja wohl geworden, wenn diese Zahl größer ist als die derjenigen, die sich vorher als "konfessionslos" geoutet hätten - womit endlich wissenschaftlich bewiesen wäre, daß auch viele Kirchenmitglieder tatsächlich mit Gott gar nichts mehr am Hut haben.
Meisner, Käßmann und Co können durchatmen - die Schmach hat ihnen der Kirchen-pampernde Staat erspart.
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4 Kommentare:
Machst du diesesmal denn mit? Wollen die Daten von dir? Ich habe meine Klingel abgestellt. Wenn, dann sollen sie mir den Wisch einwerfen.
Sicher wäre es billiger für den Staat geworden, wenn er die Daten bei Google oder Facebook gekauft hätte. Da hätte man auch gleich erfahren können, dass ich die CDU voll scheiße finde und Grün wähle. Ja gut, davon soll es noch mehr Leute geben. Aber Google hätte sicher auch meine Mailadressen weitergeben können. Da hätte man gleich nachfragen können, wieso ich die zum abkotzen finde.
Man hätte auch gleich erfahren können, dass ich ein ausgewiesener Fan von Pizza mit Thunfisch und doppelt Käse bin und wir in Deutschland viel mehr Steinbacköfen brauchen. So wird das nun aber nichts.
Meine Klingel geht auch nicht. Aber das macht nichts. Man wird per Postkarte benachrichtigt und bekommt dann einen Termin mitgeteilt, den man auch verschieben darf. Alternativ kann man auch um Zusendung der Fragebögen bitten, wenn man sich zutraut die Fragebögen selbst auszufüllen.
Bisher haben sie mich für den großen Zensus aber noch nicht am Wickel.
Befragt werden ja nicht alle. Allerdings ALLE Immobilienbesitzer (unter die ich nicht falle). Besitzt Du zufälligerweise ein paar Häuser, Schlösser oder Paläste? Dann bist Du dran!
Für Grünwähler wie Dich gibt es extra den GRÜNEN Fragebogen:
http://www.zensus2011.de/fragebogen.html
LGT
Nein, Wohneigentum habe ich nicht.
Wozu drucken die bunte Fragebögen? Wem bringt wo ein Fragebogen überhaupt etwas? Will man wissen, wo man wieviele Wohnsilos abreißen muss, um die Miethöhen zu stabilibieren?
Ich nehme nicht an, dass man Jobs oder Arbeitsplätze schaffen will. Das hat ja noch nie funktioniert. Viele Arbeitslose, halten die Löhne niedrig und die Angst vor dem Jobverlußt hoch. Warum machen die das dann?
Den USAnern, geht man mit sowas doch auch nicht auf den Sack. Warum dann uns? Hast du eine Ahnung?
Haha, bei den USAnern wäre aber was los, wenn der Staat das alles wissen wollte!!!
Da gibt es ja noch nicht mal eine Meldepflicht und die meisten Amis haben keinen Reisepass oder Perso. Da reicht irgendein Führerschien und gut is‘.
Die Teebeutler im mittleren Westen würden die Leute mit Waffengewalt wegjagen, wenn Washington solche privaten Dinge wissen wollte.
Der Zensus hier wird demnächst obligatorisch, weil die EU von jedem Mitgliedsstaat alle zehn Jahre aktuelle Daten verlangt. Der Spaß kostet in Dt. übrigens 700 Mio Euro!!
„Im Gegensatz zu der letzten Volkszählung müssen diesmal aber nicht alle Bundesbürger Fragen beantworten. Der Zensus stützt sich vor allem auf bestehende Daten, die miteinander verknüpft werden. So geben Arbeitsagenturen und Einwohnermeldeämter Daten an das Bundesamt für Statistik weiter.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung wird direkt befragt. Alle 17,5 Millionen Immobilienbesitzer müssen schriftlich Auskunft über ihre Wohnungen und Häuser geben. Rund 7,9 Millionen werden zwischen dem 9. Mai und dem 2. August von einem Interviewer besucht. Wer in die Gruppe der Befragten kommt, entscheidet das Zufallsprinzip. Und wer ausgewählt wird, muss auch antworten: Oder eine Strafe zahlen.“
Würde mich ja nicht wundern, wenn das in Brüssel auf Druck aus Berlin ausgeheckt wurde, weil die Schiss davor haben wie viele Leute eigentlich wirklich in Rumänien und Bulgarien hocken.
Und bei der Frage, WIE man die Daten erhebt, geht es eben nach deutscher Gründlichkeit und Bürokratie. Deswegen erwähnte ich das mit der Religionszugehörigkeit. Das wollte Brüssel NICHT wissen. Aber die Kirchen wollten es wissen und der Staat hat brav „ja und amen!“ gesagt.
Hier noch ein paar Daten:
„Was wird gefragt?
Der Katalog enthält 46 Fragen. Die Bürger müssen Angaben zur Person, zu Bildung, Migrationshintergrund, Beruf und Religion machen. Das Ausfüllen dauert etwa 20 Minuten.
Kann ich die Auskunft verweigern?
Nein, das geht nicht. Alle ausgewählten Bürger sind verpflichtet, am Zensus teilzunehmen. Alle Fragen müssen wahrheitsgemäß und vollständig beantwortet werden. Wer sich weigert, die Angaben zu machen, bekommt ein Bußgeld von bis zu 5.000 Euro aufgebrummt. Nur die Angaben zur Religion sind freiwillig.
Muss ich Interviewer in mein Haus lassen?
Nein. Man kann den Fragebogen zusammen mit dem Interviewer auch im Flur ausfüllen. Es ist auch möglich, online oder per Post Auskunft zu geben.
Wie viele Menschen werden befragt?
In Köln sind es etwa 55.000 Menschen. In Bonn müssen 11.000 Menschen Fragen beantworten. Und in Düsseldorf werden etwa 21.000 Menschen befragt.
In Hamburg werden rund 62.500 Personen befragt, in Berlin sind es 126.000 Menschen.
Wie viel kostet die Befragung?
Laut dem Innenministerium wird die Volkszählung gut 700 Millionen Euro kosten. Davon entfallen etwa 176 Millionen auf Vorlaufkosten und 528 Millionen auf die Durchführung der Befragungen.
Für mehr Infos siehe:
http://www.mopo.de/news/politik---wirtschaft/wer-schweigt--muss-blechen/-/5066858/8409860/-/index.html
LGT
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